REVOLUZZER UND KAPELLMEISTER
(AUS:
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN)Dikigoros beginnt ganz bewußt mit zwei Zitaten des "Meisters" [nein, liebe jüngere Leser, diese Bezeichnung ist keine Erfindung von Guildo Horn, der hat sie bloß nachgeäfft!], die auch seinen Fans weniger bekannt sein dürften, denn sie passen nicht zum gängigen Bild, das man sich von ihm macht. An dem Sachsen Wilhelm Geyer, der sich nach seinem Taufpaten "Richard" und dem ersten Ehemann seiner Mutter "Wagner" nannte, scheiden sich die Geister: entweder lieben oder hassen sie ihn. Weniger ob seiner Musik - davon verstehen die meisten seiner Kritiker ohnehin nichts. (Dikigoros muß es wissen, denn sein verstorbener Freund Olli war ein großer Wagner-Fan und konnte nicht mal Noten lesen, geschweige denn eine Tonleiter singen - wahrscheinlich konnte er auch kein Klavier von einer Stehgeige unterscheiden, und erst recht keinen Helden-Tenor von einem Koloratur-Sopran.) Die gibt eigentlich auch nicht viel zur Kritik her, weder zur positiven noch zur negativen. Dikigoros, der sich für einigermaßen musikalisch hält, findet, daß Wagners frühe Stücke guter Durchschnitt sind und seine späteren überdurchschnittlich gut, mit Ausnahme des "Rings" - den er für schlecht hält - und des "Tristan" - der nicht nach seinem persönlichen Geschmack ist; aber über Geschmäcker soll man bekanntlich nicht streiten. Ebenso wenig ob seiner Person, denn auch über die kann man nicht im Ernst streiten - alle sind sich einig, daß Wagner als Mensch unmöglich war und daß es daran nichts zu beschönigen gibt: Er verbummelte Schule und Studium, rauchte, soff, spielte, verpraßte Unmengen Geld (meist das anderer Leute) für Luxus und Tand (er konnte angeblich nur in luxuriöser Umgebung "arbeiten", d.h. dichten und komponieren), spannte anderen Männer ihre Frauen aus, betrog sie und ließ sie sitzen, war seinen Kindern ein Rabenvater, mit anderen Worten, er schmarotze und hurte überall herum und floh dann unter Zurücklassung von Schuldenbergen, die bis an sein Lebensende nicht abzutragen waren, um sich dem oder der nächsten Dummen in den Pelz zu setzen. (Eines seiner bekanntesten Opfer war König Ludwig II. von Bayern, den die eigenen Minister schließlich ermorden ließen, bevor er die Staatskasse ganz ausplündern konnte für seinen geliebten Meister.) Manche Leute meinen, "Künstler" müßten so leben; Dikigoros wagt das zu bezweifeln - er selber ist indes kein Künstler, kann es also schlecht beurteilen. Aber weder der Mensch Wagner noch seine Musik soll hier das Thema sein, sondern der Inhalt seiner Dramen - sie sind es ja, um derentwillen er gehaßt oder geliebt wird.
Wagner ist der erfolgreichste Bühnen-Autor aller Zeiten. (Nein, liebe Leser, er war es nicht, nicht zu Lebzeiten, sondern ist es erst posthum geworden, vor allem in den ersten 62 Jahren nach seinem Tode. Aber das ist nichts Außergewöhnliches, das hatte er mit Goethe, Schiller und vielen anderen gemeinsam.) Die Aufführungen seiner Stücke - und seien sie noch so schlecht inszeniert und die Eintrittskarten noch so überteuert - sind immer ausverkauft (die in Bayreuth sogar auf Jahre im voraus), und das nun schon seit eineinviertel Jahrhunderten. Rationell erklärbar ist das nicht. Denn Wagner suchte sich zwar stets gute und interessante Stoffe für seine Stücke; aber was er daraus machte, war eigentlich von Mal zu Mal schlimmer.
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Da es Dikigoros bei seinen "Reisen durch die Vergangenheit" um historische Bezüge geht, läßt er Wagners erste beiden Opern - "Die Feen" und "Das Liebesverbot" - weg, denn sie haben nichts davon. Vielleicht muß ein Bühnenautor ein gewisses Alter erreichen, bevor er sich selber für historische Stoffe interessiert. In jungen Jahren tat Wagner das jedenfalls nicht; er war ein durchschnittlicher Kapellmeister, der sich aus der Masse seiner Kollegen lediglich durch die Masse seiner Schulden abhob - vielleicht wäre er sein Lebtag im sächsischen Leipzig geblieben, wenn er nicht ständig vor seinen Gläubigern auf der Flucht gewesen wäre. So aber gelangte er von Würzburg über Riga nach Paris, wo er endlich seine erste historische Oper schrieb: den "Rienzi". Die Geschichte des Nicola ("Cola") di Lorenzo ("R[i]enzo") - eines Berufskollegen von Robespierre, Benito Juárez, Lenin, Fidel Castro und Dikigoros - ist einer der faszinierendsten Stoffe der italienischen Geschichte überhaupt und sicher der interessanteste nach Ende des Römischen Reichs und vor Beginn des 20. Jahrhunderts. (Dieser Vorbemerkung entnimmt der geneigte Leser - so er es nicht bereits an anderer Stelle gelesen hat -, daß Dikigoros nicht viel von Garibaldi hält, den einige Italiener noch immer als ihren Nationalhelden ansehen, weil er im 19. Jahrhundert an ein paar Kriegen teilnahm, die zur staatlichen Einigung Italiens beitrugen (aber das ist eine andere Geschichte). Vielleicht nicht nur der italienischen, sondern der ganzen europäischen Geschichte. Gewiß, liebe Schreibtisch-Historiker, im späten Mittelalter, im 14. Und 15. Jahrhundert gab es in vielen Ländern Populisten, die mehr oder weniger lange "das Volk" um sich zu scharen wußten, um den Kampf um die politische Macht aufzunehmen: William Wallace in Schottland und Wat Tylers in England, Jan Zischka und Andreas Prokop in Böhmen, Engelbrecht Engelbrechtson in Dänemark und Sven Sture in Schweden, um nur die bekanntesten zu nennen. Aber bei Licht betrachtet waren das doch nichts weiter als Bauernführer, deren Pöbelhaufen im selben Augenblick auseinander liefen, als ihnen beim Marsch auf die Hauptstädte ernsthafter militärischer Widerstand entgegen gesetzt wurde, nicht anders als die von der DDR als frühe "Genossen" gefeierten Führer der deutschen Bauernkriege im 16. Jahrhundert. Rienzo aber war der erste intellektuelle Demagoge, der die städtischen Massen allein durch die Gabe seiner Beredsamkeit gewann - er war der geistige Urahn der Mussolini und Hitler. War er es auch politisch? Sah Wagner ihn so? Gab seine Opernfigur ein Vorbild ab, das die Nazis mißbrauchen konnten? Wohl kaum, denn diese Oper wurde von Wagner selber schon bald verworfen und im 20. Jahrhundert praktisch nicht mehr aufgeführt; außerdem hatten es die Nazis mehr mit den germanischen Göttergestalten und Leitbildern anderer Opern. Der Italiener Rienzo ging sie nichts an.
Viel eher hätte er die zeitgenössischen Pariser etwas angehen können, denn nur zehn Jahre nach der Uraufführung sollte dort ein anderer Volkstribun - der Neffe des ersten Napoleon - die Macht an sich reißen; aber das ahnte damals noch niemand, also flopte "Rienzi", und Wagner (dem es in Paris ohnehin nie so recht gefallen hatte, denn ohne Geld lebte es sich in der Seine-Metropole schon immer schlecht) war heilfroh, als er wieder eine Stelle als Kapellmeister angeboten bekam und nach Sachsen zurück kehren konnte, diesmal in die Landeshauptstadt Dresden. Dort hätte er nun auf Dauer bleiben, seine Opern schreiben und zur Aufführung bringen können (mit "Rienzi" gelang ihm immerhin ein Achtungserfolg - was ihn wie gesagt nicht hinderte, sich wenig später von diesem Werk zu distanzieren -, und auch "Der fliegende Holländer", "Tannhäuser" und "Lohengrin" gingen einigermaßen über die Bühne); aber es sollte alles ganz anders kommen. Denn im innersten seiner Seele war Wagner - wie so viele Sachsen - ein Revolutionär. Nein, noch nicht im musikalischen (das sollte erst später kommen), sondern ganz im politischen Sinne: Als anno 1848 die Revolution ausbrach, war er dabei auf den Barrikaden; und als sie ein Jahr später zusammen brach, mußte er fliehen; er floh in die Schweiz und suchte sich dort eine reiche Gönnerin, die ihn aushielt, pardon finanziell unterstützte.
Moment mal, werden die meisten Leser fragen, die von Wagner nur aus dritter Hand gehört haben, war das nicht ein böser Rechter, ein geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus - und ausgerechnet der soll 1848 mit den Linken auf den Barrikaden gegen die Obrigkeit gekämpft haben? Tja, liebe Leser, als Kinder des 20. Jahrhunderts ist uns vielfach der Blick verstellt durch das Dritte Reich und sein (Miß-)Verständnis vom National-Sozialismus (bzw. dem, was seine Feinde im Nachhinein daraus gemacht haben, indem sie ihn ganz in die "rechte" Ecke gestellt haben). Wir empfinden deshalb "Sozialismus" und "Nationalismus" als Gegensätze, ordnen sie dem linken bzw. rechten Rand des politischen Spektrums zu und versetzen "Liberalismus" und "Konservatismus" ins linke bzw. rechte Mittelfeld. In dieses grobe Raster führen wir dann noch eine Reihe anderer "Ismen" ein und versehen sie mit "Links-Rechts"-Etiketten: Umweltschutz gilt (obwohl er doch etwas bewahren will, also ein zutiefst "konservatives" Anliegen ist) als "links", Antisemitismus als "rechts", Multikulti als "links", und die Zusammenfassung von Parlaments-Kandidaten und -Abgeordneten in Parteien-Listen und -Fraktionen als "demokratisch".
Mitte des 19. Jahrhundert war das jedoch alles ganz anders: Als "rechts", d.h. konservativ und reaktionär, galten die Monarchisten, die noch überall in Europa herrschten, und als "links", d.h. als revolutionär, galten alle, die dagegen waren: die "Nationalisten", die "Liberalen" und die "Demokraten". (Dagegen gab es noch keine "Kommunisten" - Marx und Engels hatten das "Kommunistische Manifest" gerade erst gepinselt und noch keine nennenswerte Anhängerschaft gefunden - und keine "Socialisten" - dieser Begriff sollte im politischen Sinne erst ein Vierteljahrhundert später von so genannten Arbeiterführern erfunden werden). Was wollten diese "linken" Revolutionäre? Nun, sie wehrten sich ziemlich genau gegen das, was die Obrigkeit ihren Untertanen auch heute wieder aufzuzwingen versucht: gegen den Multi-Kulti-Brei-Staat, dessen Grenzen willkürlich gezogen waren, dessen Herrschende keine Rücksicht auf Volks- oder Sprach-Zugehörigkeit nahmen, der seinen Bürgern das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung vorenthielt (die Medien waren damals noch nicht staatlich monopolisiert und vorzensiert, also mußte vor allem die Presse geknebelt werden), und erst recht die direkte Teilhabe an der politischen Willensbildung. (Es gab damals wie heute keine Volksentscheide; und bis heute kann bekanntlich kein wirklich unabhängiger Kandidat vom Volk ins Parlament gebracht werden, weil die herrschenden politischen Parteien das Aufstellungsverwahren praktisch monopolisiert haben.) Schaut Euch doch einmal in einem alten Atlas die Landesgrenzen im 19. Jahrhunderts an, liebe Leser: In ganz Europa gab es staatliche Zwangsgemeinschaften, die mit Gewalt zusammen preßten, was nicht zusammen gehörte und auch nicht zusammen - geschweige denn mit einander - leben wollte: Engländer, Schotten, Waliser und Iren in Großbritannien, Flamen und Wallonen in Belgien, Franzosen, Bretonen, Basken, Korsen und Elsässer in Frankreich, Kastilier, Katalanen, Galizier und Basken in Spanien, Österreicher, Tschechen, Slowaken, Ruthenen, Rumänen, Ungarn, Kroaten, Slowenen und Italiener im Habsburger Reich, Russen, Ukrainer, Finnen, Esten, Letten, Litauer, Polen, Kaukasier, Turkvölker und Sibiriaken im Zarenreich, Türken, Griechen, Armenier, Kurden, Ägypter, Libyer, Syrer, Iraker und andere Araber im Osmanischen Reich...
Nun ist es ja immer leichter, gegen etwas zu sein als für etwas. Wofür waren also diese "linken" Revolutionäre? Bei Licht betrachtet waren sie ziemlich genau für das, was heute als "rechts" bezeichnet und z.T. als "fascistisch" oder "national-sozialistisch" verfemt wird: Sie wollten ausbrechen aus ihren Multi-Kulti-Gefängnissen, endlich frei sein (jawohl, sie verstanden sich als "Freiheitskämpfer"!), ihre eigenen Staaten zu gründen, ihre eigenen, nationalen Regierungen zu wählen und ihre eigene Kultur und Sprache zu pflegen, ohne dynastische oder diplomatische Rücksichten, auf Minderheiten diesseits oder jenseits der Staatsgrenzen - die letzteren sollten gefälligst den Volkstums- und Sprachgrenzen angepaßt werden! Zu diesem Programm gehörte es auch, diejenigen hinaus zu werfen, die nicht dazu gehörten und sich partout nicht integrieren wollten, von den - oftmals fremdländischen - Herrscher-Häusern und deren Schergen (die meist als Angehörige der Besatzungsarmeen gekommen waren, und sei es viele Generationen zuvor) bis zu den Billiglohnarbeitern und sonstigem Kroppzeug, das in deren Kielwasser ins Land gespült war: Die Franzosen und Polen wollten endlich die Juden los werden, die Tschechen und Ungarn die Österreicher, die Ostsee-Anrainer die Russen, und die Balkanesen... aber das ist eine andere Geschichte. Tja, liebe Leser, wenn das immer so einfach gewesen wäre - und wenn einige Revolutionäre geahnt hätten, wie die Praxis aussehen sollte, als ihr Wunsch später verwirklicht wurde... Sagen wir ruhig einmal in aller Deutlichkeit, daß es z.B. den Slowaken und Kroaten im habsburgischen Reich viel besser ging als später in der Tschecho-Slowakei bzw. in Jugo-Slawien unter der Herrschaft ihrer tschechischen und serbischen "Brüder" - sie und viele andere "Revolutionäre" und "Freiheitskämpfer" (und deren bedauernswerten Erben) haben diesen Irrtum lange Zeit teuer bezahlt, bitter bereut und inzwischen teilweise korrigiert - z.T. durch noch weiter gehende "Selbständigkeiten"; aber auch den Ruthenen ging es im habsburgischen Galizien bestimmt, in Großpolen wahrscheinlich und selbst in der Sowjet-Union vielleicht besser als jetzt in "ihrem" eigenen Staat, der Ukraine. Sei's drum, die Menschen konnte damals ebenso wenig hellsehen wie heute, und vielleicht wog einigen die nationale Selbständigkeit die materiellen Einbußen, die sie mit sich brachte sogar auf.
Die Kehrseite der Medaille war, daß diejenigen Völker, die noch keinen gemeinsamen Staat hatten, unbedingt einen haben wollten, allen voran die Italiener und die Deutschen (Professor Hoffmann aus Breslau hatte gerade auf Helgoland - das damals noch britisch war - einen Liedertext zu einer Komposition von Haydn geschrieben, dessen erste Strofe allerlei europäische Gewässer erwähnt, die damals noch allgemein für deutsch gehalten wurden). Nun kann man mit Fug und Recht fragen, was denn die Lombarden mit den Sizilianern, die Savoyer mit den Sarden, die Sachsen mit den Schwaben, die Niederländer (die wohnen an der Maas) mit den Oberbayern, die preußischen Schlesier mit den Schleswigern (die wohnen am Belt), die Tiroler (die wohnen an der Etsch) mit den Tilsitern (die wohnen an der Memel) gemeinsam haben sollten, daß sie unbedingt zusammen in jeweils einem Staat zusammen leben mußten. Dikigoros weiß es nicht; er kann diese Frage nur an seine Leser weiter reichen - vielleicht mailt ihm mal jemand eine überzeugende Antwort. Aber vielleicht war es das nicht allein; vielleicht war es auch eine Sehnsucht nach dem, was die Franzosen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" nannten (und zwar ebenfalls erst seit 1848 - bei der so genannten "Französischen Revolution" von 1789 hatte die Parole noch anders gelautet, aber das ist eine andere Geschichte), einem Gefühl gemeinsamer Kultur, Religion und Sprache. (Obwohl - hatten nicht die Katholiken und Protestanten in Mitteleuropa Jahrhunderte lang erbitterte Krieg gegeneinander geführt? Sprachen nicht noch im Ersten Weltkrieg bayrische und preußische Offiziere, wenn sie das Pech hatten, im selben Schützengraben zu landen, mangels anderweitiger Verständigungsmöglichkeit miteinander Französisch?) Denn wenn es eine Vorstellung von "Brüderlichkeit" in dem Sinne gegeben hätte, daß alle Menschen Brüder werden sollten, wie es ein gewisser Schiller mal angedacht hatte, dann hätte man wiederum gar keine Staatsgrenzen mehr gebraucht - oder? Vielleicht war das damals auch alles gar nicht so großartig durchdacht, wie es politische Ideen und Programme heute zu werden pflegen (ohne daß immer soviel Gescheiteres heraus käme), und es gingen einfach nur Menschen guten Willens (aber schwachen Verstandes) auf die Barrikaden, um ihr Los - und das ihrer Volksgenossen - zu verbessern. Wie dem auch sei - die Revolutionäre von 1848 waren (im Gegensatz zu vielen, die sich ein knappes Jahrhundert später so nannten) National-Sozialisten im besten Sinne des Wortes; und Wagner war einer von ihnen.
Welche Beweggründe aber trieben ihn dazu? Jemanden, der als königlich sächsischer Hofkapellmeister zum "Establishment" gehörte und von daher eigentlich allen Grund gehabt hätte, für die Erhaltung der bestehenden Ordnung einzutreten; jemanden, der immer gerne auf großem Fuße lebte, den Luxus liebte und das Geldausgeben; jemanden, der auf seiner Reise von Paris nach Dresden zum erstenmal im Leben den ach-so-deutschen Rhein gesehen hatte (von Riga nach Paris war er mit dem Schiff gesegelt - was ihn übrigens zum "Fliegenden Holländer" inspiriert haben soll)... Wollte er einfach nur Revolution um ihrer selbst Willen machen, so wie heute viele "autonome" und "alternative" Revoluzzer einfach nur Krawall machen wollen, um irgendetwas zu zerstören? Oder gehörte Wagner vielleicht zu jenen Menschen, die der Nächstenliebe nicht fähig sind und deshalb in die Fernstenliebe flüchten? (So wie das im 20. Jahrhundert viele der psychisch kranken 68er taten, als ihnen der Marsch durch die Institutionen gelungen war: Mit den Menschen, zwischen denen sie geboren und aufgewachsen waren, konnten sie nicht umgehen, also schufen sie sich ein Ideal: das des guten Ausländers, den man unbedingt ins Land holen mußte - besonders wenn man selber in seinem Elfenbeinturm lebte und noch nie einen aus der Nähe gesehen hatte.) Ja, so könnte es gewesen sein: Mit den Franzosen war Wagner nicht ausgekommen, und so machte er es wie viele "Expats", die Heimweh haben und das kompensieren, indem sie sich aus der Erinnerung ein verklärtes Bild von zuhause malen (wobei sie meist verdrängen, warum sie von dort weg gegangen sind). Aber wie das so ist: Wenn man dann tatsächlich wieder nach Hause kommt, hält dieses Traumbild der Wirklichkeit nicht stand, und man ist bitter enttäuscht - das böse Zitat in der 5. Zeile der Überschrift über die Sachsen stammt aus einem Brief, den Wagner unmittelbar nach der Ankunft in Dresden schrieb. Also: "Die" Franzosen waren schlecht, denn "ubi bene, ibi patria [wo es einem gut geht, fühlt man sich zuhause]", und Wagner ging es in Paris wie gesagt ziemlich schlecht, und "die" Sachsen waren aus der Nähe betrachtet auch nicht viel besser; also schuf Wagner sich ein neues Ideal für seine Träume: "die" Deutschen. Und da er auch die in der Gegenwart nicht fand, erhob er ihre Schaffung zum politischen Programm für die Zukunft (so wie später sein Freund Nietzsche den "Übermenschen") und suchte sich ihre Vorbilder in der Sagenwelt der Vergangenheit - und damit kommen wir endlich wieder zu seinem Bühnenwerk.
Noch in Paris hatte Wagner den "Fliegenden Holländer" geschrieben - und damit sind wir schon wieder mitten in der Politik. War diese Geschichte vom "ewigen Juden" nicht anti-semitisch? Dagegen spricht nicht, daß er sie unstreitig von dem Juden Harry Cheym alias "Heinrich Heine" hatte, liebe Leser; auch "Jud Süß" stammte von einem Juden - Lionel Feuchtwanger -; es kommt darauf an, was man aus solchen Stoffen macht! Aber gerade da vermag Dikigoros in Wagners Oper - anders als in anderen Bearbeitungen - nichts zu entdecken: Der Holländer wurde vom Teufel verflucht, weil er unbedingt das Kap der Guten Hoffnung umrunden wollte. Kein Wunder, daß ihm das nie gelang, wenn er sich vor der norwegischen Küste - also am anderen Ende der Welt! - herum trieb! Nur die ewige Liebe und Treue einer reinen Jungfer könnte ihn "erlösen". (Ja, Wagner hatte es immer mit der "Erlösung" - diesem Motiv werden wir noch öfter begegnen!) Zum Glück trifft der Holländer in einem Sturm den norwegischen Kapitän Daland, der ihm von seiner Tochter Senta erzählt, die - wie es der Zufall so will - sich gerade in das Bild des Holländers verliebt hat, sehr zum Unwillen ihres ständigen Verehrers Erik. (Ihr Vater zieht freilich den reichen Holländer dem armen Jägersburschen als Schwiegersohn vor.) Gerade als sie dem Holländer ewige Liebe und Treue geschworen hat, kommt dieser lästige Jäger an und macht seine angeblichen älteren Rechte geltend. Nun fühlt sich der Holländer um seine "Erlösung" betrogen und segelt auf und davon. Senta, ganz verzweifelt ob dieses Mißverständnisses, springt ins Wasser und ertrinkt, nicht ohne zuvor ihre ewige Liebe und Treue verkündet zu haben, so daß wir also annehmen dürfen, daß der Holländer seine Erlösung doch noch bekommt. (Auch dieses Motiv - Mißverständnis der Liebenden mit tödlichen Folgen - wird uns bei Wagner noch einmal begegnen, in "Tristan und Isolde".) Zurück bleibt ein verzweifelter Erik - dabei sollte der doch froh sein, daß er diese überspannte Tussi los ist; aber Männer sind halt, wie Frau Dikigoros zu sagen pflegt, manchmal weniger kopf- als schwanzgesteuert. (Auch Wagner hat man das schon nachgesagt, und vielleicht nicht ganz zu Unrecht.)
Aber Dikigoros will der eingangs gestellten Frage nicht ausweichen: Gewiß, Wagner war Antisemit, daran kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, denn er hat daraus keinen Hehl gemacht - und dies war sicher einer der Gründe, weshalb er im Dritten Reich so populär war (an seiner Musik kann es nicht gelegen haben; sie war für den Geschmack der Nazis eigentlich zu modern, um nicht zu sagen "entartet"). Warum? Darüber haben viele Biografen gerätselt, denn Wagner hatte viele jüdische Gönner, und eigentlich keinen, der ihm ernsthaft geschadet hätte - er hatte also scheinbar keinen objektiven Grund, einen Juden - oder gar "die" Juden - zu hassen. Aber Haß ist ein Gefühl, und was ist an Gefühlen schon objektiv? Vielleicht hatte der große Psychologe Nietzsche - erst ein guter Freund, dann ein böser Freund Wagners - Recht, wenn er schrieb, daß manche Menschen ihre Wohltäter hassen, aus einem Gefühl der Minderwertigkeit heraus, weil sie sich ihnen nicht erkenntlich zeigen können? (Und vielleicht war dieser Spruch sogar auf Wagner gemünzt?) Welche Gründe könnte es sonst gegeben haben? Wagner mochte die Musik von Meyerbeer und Mendelssohn-Bartholdy nicht. (Dagegen war er persönlich mit beiden zu deren Lebzeiten gut Freund, auf diese Feststellung legte er selber großen Wert.) Na ja, Dikigoros gefällt sie auch nicht sonderlich, aber ihm gefällt auch an Wagners Musik vieles nicht - das ist letztlich keine Frage des Pro- oder Anti-Semitismus, sondern des guten oder schlechten Geschmacks. Einige jüdische Kritiker hatten seine Aufführungen verrissen - einige nicht-jüdische auch, na und? Nein, der Anti-Semitismus ist schwerlich auf Wagners eigenem Mist gewachsen, deshalb kann man ihn auch nicht als "Vorläufer" oder "geistigen Vater" desselben anprangern. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Der Antisemitismus war eine - in Deutschland noch am wenigsten - weit verbreitete Erscheinung, und die Gründe dafür kann man sicher nicht ausschließlich in der Welt der Musik oder des Theaters suchen. Neid? Ja, das ist immer ein guter Beweggrund, und einige erfolgreiche jüdische Bankiers und Geschäftsleute stachen ja auch jedem ins Auge, zumindest im Westen. Aber die schlimmsten Judenverfolgungen gab es gar nicht dort, sondern in Osteuropa, in Rußland und Polen, und gerade dort waren die meisten von ihnen eher arm.
Es muß also noch eine andere Art von Neid gewesen sein, und Dikigoros glaubt sie gefunden zu haben. Erinnert Ihr Euch, liebe Leser, was er gerade über die Sehnsucht der Völker nach der eigenen Nation geschrieben hat, nach der Bewahrung der eigenen Kultur, Sprache und Religion? Welches Volk hatte denn, obwohl seit zwei Jahrtausenden über alle Welt zerstreut, am erfolgreichsten an all dem festgehalten? An der zionistischen Kultur, am jüdischen Glauben, an der mittelhochdeutschen ("jiddischen") Sprache (ein ganz objektiver Grund neidisch zu sein speziell für die Deutschen, die das selber nicht getan hatten - aber das ist eine andere Geschichte)? Eben - die Juden. (Schaut Euch dagegen nur mal die Deutschen an: Die waren in der Regel schon eine Generation nach der Auswanderung, etwa in den USA, "assimiliert", d.h. ihre Kultur und Sprache waren ausgelöscht, und zwar auch schon vor den anti-deutschen Pogromen von 1917 - von denen übrigens auch viele Juden mit deutschen Namen betroffen waren, aber das ist ebenfalls eine andere Geschichte.) Dennoch sollte man die Kirche des Anti-Semitismus im Dorf lassen. Gewiß, Wagner hat Schlechtes über "die" Juden geschrieben; aber ausweislich des bereits erwähnten Zitats aus der 5. Zeile der Überschrift hat er, der Sachse, das auch über "die" Sachsen getan. Und, um auf die Oper zurück zu kommen: Da vermag Dikigoros beim besten Willen keinen Anti-Semitismus zu entdecken, weder in der Geschichte an sich noch in Wagners Bearbeitung: Der "fliegende Holländer" muß auf einem Geisterschiff über die Weltmeere segeln (was ist daran eigentlich so schlimm?), bis ihn die uneigennützige Liebe einer edlen Jungfer erlöst - und das tut sie dann ja auch, nach vielen Stunden kaum mehr als durchschnittlicher Musik, die man leicht um die Hälfte kürzen könnte, wenn Ihr Dikigoros fragt. Ist Euch mal aufgefallen, liebe Leser, wie dünn fast alle Librettos von Wagner sind? Von der Handlung und vom Text her passiert bei ihm nämlich meist nicht viel (mit Ausnahme des "Rienzo" - das war auch der ganz offizielle Grund, weshalb er ihn später nicht mehr mochte); er reichert bloß jedes Wort, ja jede Silbe mit so vielen Tönen an, daß sich der Sprechgesang endlos hinzieht wie der sprichwörtliche Kaugummi.
Schlußszene: Erik sieht dem absegelnden Holländer nach
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"Seh't da den Herzog von Brabant, -
zum Führer* sei er euch ernannt"
*seit 1945: "zum Schützer..."
Ja, liebe Leser, es hätte nicht viel gefehlt, und nach 1945 wären auch der Straßenbahnführer, der Fahrstuhlführer und womöglich sogar der Reiseführer zum "Straßenbahnschützer", "Fahrstuhlschützer" und "Reiseschützer" ernannt worden, so wie der Ent-führer zum "Kidnapper" ernannt wurde, auch wenn er gar keine Kinder, pardon Kids, sondern Erwachsene entführte. Aber Spaß beiseite. Beim "Lohengrin" können endlich mal alle mitreden, auch die größten musikalischen Banausen, denn wer kennt ihn nicht, den Hochzeits-Chor, zumindest die berühmte Anfangs-Quart aus der 1. Szene des 3. Aktes: "Treulich geführt...". (Sie ist noch berühmter als die doppelte Quart [tatü, tata] aus dem Tannhäuser-Chor, und Wagner würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, daß ausgerechnet diese beiden noch ganz dem konventionellen Stil der Wiener Klassik verhafteten Stücke aus seinem Werk beim Publikum letztlich den größten Anklang gefunden haben.) Aus unerfindlichen Gründen wird es noch heute auf fast allen Hochzeiten gedudelt (nur nicht auf der von Dikigoros - das haben er und seine Frau sich tunlichst verbeten). Andere Passagen aus dem Lohengrin-Text wurden dagegen nach 1945 nicht nur verfälscht, sondern ganz verboten, z.B. jener schöne Zweizeiler aus der 3. Szene des 3. Aktes:
"Nach Deutschland sollen noch in fernen Tagen -
des Ostens Horden siegreich nimmer zieh'n!"
Auch die 40 vorauf gehenden Zeilen ab "O, Elsa! Was hast du mir angetan?" sind der Schere des politisch korrekten Zensors zum Opfer gefallen. (Selbst in dem zehn Jahre nach dem Untergang der Sowjet-Union unter dem Titel "Wagner-Mania" neu heraus gegebenen Mitschnitt der Aufführung des New Yorker Metropolitan Opera Orchestras von 1940 hat man sie unterschlagen.) Dabei hatte Wagner dabei sicher nicht an die Russen gedacht (geschweige denn an die Sowjets), auch wenn einige Knallköppe das heute noch behaupten. (So schreibt Michael von Soden, Herausgeber des "Lohengrin"-Bandes der Richard-Wagner-Reihe des Insel-Verlags, Wagner habe damit den bösen russischen Zaren gemeint, der 1831 den Aufstand der polnischen Freiheitskämpfer nieder geworfen habe - da lachen ja die Hühner, pardon Schwäne!) Nein, da sollte man nicht zuviel hinein lesen. Das Stück spielt doch im 10. Jahrhundert, und damals kämpften die deutschen Herrscher - sowohl Heinrich der Vogler als auch sein Sohn Otto der Große - halt mit Erfolg gegen die aus dem Osten eingefallenen Ungarn. (Haltet Ihr es wirklich für einen Zufall, liebe Leser, daß der "Lohengrin" 1954, nach dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft gegen die Nachkommen eben jener Ungarn, bei den Bayreuther Festspielen neu inszeniert wurde? Es soll die beste Inszenierung aller Zeiten gewesen sein; die Aufnahme von 1954 ist bis heute Kult und wird noch immer - "remastered" und "digitalisiert" - auf CD angeboten, und zwar keineswegs zu Ramschpreisen, was immer Schlüsse auf die Beliebtheit zuläßt.)
Ja ja, das "Heil Heinrich" mögen manche in den falschen Hals bekommen haben - nicht in den Schwanenhals -; aber noch bis ins 20. Jahrhundert war "Heil" ein ganz normaler Gruß der Deutschen, wie "Schalom" bei den Juden, "Salam" bei den Arabern oder "Jay" bei den Indern (die alle drei wörtlich "Sieg-heil" bedeuten, genauer gesagt den [Wunsch nach] Frieden nach einem siegreichen Kampf); erst nach 1945 wurde das Wort geächtet.
Politiker haben es mit Feiern, vor allem mit runden 1000-Jahr-Feiern. König Friedrich Wilhelm IV von Preußen beging sie 1843, weil anno 843 mit dem Vertrag von Verdun das Reich Karls des Großen aufgeteilt worden war in ein "westkarolingisches" und ein "ostkarolingisches" Reich (in denen man mit sehr viel Fantasie die zumindest geografischen Ursprünge Frankreichs und Deutschlands sehen kann); die Nazis (die es ja ganz besonders hatten mit ihrem "Tausendjährigen Reich") begingen sie 1936, weil anno 936 nach dem Tode Heinrichs sein Sohn Otto der Große auf den Thron gelangt war. Beides hält Dikigoros mit Verlaub für ziemlich weit her geholt.
Ebenso weit hergeholt: "Nie sollst du mich befragen" als Ablehnung der Adelsgesellschaft - im Gegenteil: Wäre Lohengrin nicht seinerseits von Adel, hätte er den Zweikampf gar nicht bestreiten dürfen! (Das ist ja ohnehin das Leitmotiv aller Märchen bis in unsere Tage: Der strahlende Held muß sich am Ende immer als der verkappte Prinz entpuppen, sonst zählt alles nichts!)
Heute wäre der Stoff vielleicht geeignet, um den Sprachenstreit in Belgien zu thematisieren:
Brabant mit der alten Hauptstadt Löwen und der neuen Hauptstadt Brüssel ist das Herzstück des flämischen Teils von Belgien, gelegen zwischen dem eigentlichen Flandern im Westen und dem Herzogtum Limburg im Osten. Letzteres wurde im Londoner Protokoll nach dem belgischen Sezessionskrieg gegen die protestantischen Niederlande 1839 ohne Not Limburg und Luxemburg, die beide fast 1.000 Jahr lang zum Reich gehört hatten, an Belgien abgetreten - seitdem war die Maas nicht mehr Deutschlands Grenze. Das erlebte auch Wagner hautnah mit - anders als den polnischen Aufstand von 1830 und seine Niederwerfung durch die Russen.
Lohengrin und Elsa von Brabant. Der verzauberte Gottfried als Schwan Hans/Gans. Gänse und Raben. Griechen (Afroditi, Leda und der Schwan), Römer (kapitolinische Gänse) und Inder (Hans/Gans). Ach, liebe Leser, Ihr glaubt, die Romanen seien doch gar keine Indogermanen? Wo habt Ihr denn das aufgelesen? Natürlich zählen dazu nicht nur die Gernanen und die Inder, sondern auch die so genannten "Romanen" und "Slawen" (zwei eigentlich ganz abstruse Bezeichnungen, die sich die Sprachwissenschaftler ausgedacht haben), die Griechen und sogar die Türken. (Was, das glaubt Ihr nicht? Und doch ist es wahr: Dikigoros und seine Frau haben ihre Hochzeitsreise in die Türkei gemacht und dort auch an Hochzeiten der Einheimischen teil genommen. Brautleute erhalten dort als Glücksbringer Schwäne aus Porzellan.) Zweikampf Gottesurteil. Die Illusion vom gerechten Urteil damals und vom gerechten irdischen Urteil heute. (Der Volksmund hat - berechtigte - Zweifel.) Die Wahrheit, die dahinter steckt: Der stärkere hat Recht. Damals: Soundsoviele "Eideshelfer", d.h. wer mehr schwertfähige Männer beibringen konnte, die bereit waren für ihn einen (Mein-)Eid zu schwören und zum Schwert zu greifen, desto besser standen seine Chancen vor Gericht.
In Frankreich bis heute verhaßt, bei der Uraufführung 1891 - obwohl erst acht Jahre nach Wagners Tod - noch ein Riesen-Skandal -, in der Karikatur Kampf des Schwanes gegen den gallischen Hahn - lächerlich! Später hat man versucht, da einen albernen Gegensatz zwischen "welsch" und "germanisch" hinein zu lesen. Lächerlich - Lohengrin war doch der Sage nach der Sohn von Parsifal und somit wohl ein "Welscher"!
Ist es nicht merkwürdig, daß ausgerechnet dasjenige Stück Wagners, das sich am wenigsten um Geld und Gut dreht (sondern - wie immer, aber hier mal fast ausschließlich - um die Liebe), nämlich der "Tannhäuser", am häufigsten auf Geldstücken und Geldscheinen auftaucht? (Was Dikigoros eingangs des "Fliegenden Holländers" abgebildet hat ist nur eine Gedenk-Medaille.) Und fast immer - wie hier - in trauter Runde, züchtig bekleidet, als Sänger und/oder Pilger, aber nie als feuriger Liebhaber. Dabei war es doch gerade das, was Wagner an dem Stoff so faszinierte: Tannhäuser treibt es im Venusberg (nicht umsonst sollte die Oper ursprünglich "Der Venusberg" heißen!) mit der Göttin der irdischen Liebe, bis ihn ein - ebenfalls ziemlich weltliches - Motiv wieder an die Erdoberfläche zieht, nämlich die Lust, sich bei einem Schlagerfestival auf der Wartburg zu produzieren. Leider klappt das nicht so recht - jedenfalls nach damaligen Vorstellungen -, sondern es kommt zum Eklat über einen ziemlich gewagten Love-song. (Heutzutage wäre so ein schöner Skandal ja die beste Werbung für den Verkauf des Schlagers!) Tannhäuser sieht ein, daß er lieber ein braves Minnelied auf die platonische Liebe hätte singen sollen, mutiert zum Mönch und reist, pardon pilgert nach Rom zum Papst, um ausgerechnet den um Verzeihung zu bitten. Der will aber nicht mitspielen, sondern profezeit ihm, daß er so wenig Erlösung finden wird wie ein Bischofsstab zu grünen beginnt. Also latscht Tannhäuser wieder zurück nach Thüringen, und nachdem der Pilgerchor noch ein schönes Lied gesungen hat, stirbt der Titelheld. Zum Glück hat sich schon wieder eine jungfräuliche Erlöserin in die Handlung eingeschlichen, nämlich die keusche Tochter des Landgrafen von Thüringen, die heilige Elisabeth, und so kommt er wenigstens in den Himmel. Und woher wissen wir das? Nein, er fährt nicht vor aller Augen in den Himmel auf; aber der Stab beginnt tatsächlich zu grünen. Wenigstens ein hübsches Ende für eine ziemlich seichte Story.
Darf Dikigoros gleich mal ein paar persönliche Ansichten los werden und über die Wirkung von Liedertexten im allgemeinen und über das mittelalterliche Minnesängertum im besonderen? Wenn heutzutage irgend so ein Schlagersternchen "I love you" trällert - nimmt das jemand von Euch ernst, liebe Leser[innen]? Wohl kaum; jedenfalls fühlt Ihr Euch schwerlich in dem Maße persönlich angesprochen, daß Ihr nun mit dem Star ins Bett gehen wollt - Ihr wißt doch im Grunde genommen genau, daß der Sänger oder die Sängerin nur Euer bestes wollen: Euer Geld! Nun fällt es Dikigoros schwer zu glauben, daß sich der Mensch seit dem Mittelalter dermaßen geändert hat, daß damals alles soviel anders gewesen sein sollte. Was steht in unseren Märchen- und Geschichten-, pardon Geschichts-Büchern? Der Minnesänger sang seiner angebeteten Dame zwar durchaus keine platonischen Liedertexte vor - im Gegenteil, sie waren meist recht deutlich, bisweilen sogar anzüglich in ihren Anspielungen -, aber gleichwohl durften seine sexuellen Wünsche nie in Erfüllung gehen, das war gerade der Witz an der Sache. Ha, ha, sehr witzig, liebe Leser - aber findet Ihr das nicht auch ziemlich krank? Was war der größte Wunsch des berühmtesten deutschen Minnesängers? Eine Planstelle als Sesselpupser in der Beamtenhierarchie ("Lehen" hieß sowas damals). Und wie bekommt, pardon bekam man die? Richtig, indem man mit der Frau vom Chef pennte, oder - wenn man es denn vermeiden konnte, denn wer wollte schon mit so einer alten, langweiligen Tucke ins Bett gehen? - ihr wenigstens vormachte, daß man gerne mit ihr pennen würde, damit sie ein gutes Wort bei ihm einlegte. Nicht mehr und nicht weniger dürfte hinter diesen "Minnebräuchen" gesteckt haben; mit Groupies von gleichem Stand und Geschmack werden die Herren Minnesänger ohne weiteres auch ins Bett gegangen sein. Das Mittelalter - und zumal das so genannte Hochmittelalter, in dem der "Tannhäuser" spielt - war weder "finster" noch prüde; das ist vielmehr eine Rückprojektion des prüden 19. Jahrhunderts, in dem diese Zeit "wieder entdeckt" wurde, wobei man von sich auf andere schloß. [Die hochmittelalterliche Freizügigkeit und Promiskuität machte erst Mitte des 14. Jahrhunderts einer gegenläufigen Bewegung Platz, als der "Schwarze Tod" - die Pest - die Ansteckungsgefahr beim Geschlechtsverkehr erhöhte, ähnlich wie heute AIDS.]
Lassen wir das - das ist nur Dikigoros' ganz private Mindermeinung. Was war denn nun nachweislich historisch falsch am "Tannhäuser"? Beginnen wir mit dem Titelhelden selber. Auf den haben die Herren Historiker viel Gehirnschmalz verwendet und tatsächlich eine Urkunde gefunden, auf der einer dieses Namens erwähnt wird, der auch brav im 13. Jahrhundert lebte und vielleicht an einem Kreuzzug teilnahm (jedenfalls stellt ihn die Manessische Liederhandschrift in Kreuzfahrertracht dar - aber das ist eine andere Geschichte). Viel mehr wissen wir aber nicht von ihm - noch nicht mal, ob er Minnesänger oder jemals auf der Wartburg war. Aber dann gibt es das so genannte Volksbuch vom Tannhäuser - das war freilich ganz einfach jemand, der im Tann, also im Wald hauste, wahrscheinlich ein alter heidnischer Gott, denn um ihn rankte sich die Sage, daß er nach ausgiebigem Winterschlaf jedes Frühjahr ausfuhr, im Sommer durch die Lande zog und im Herbst zurück kehrte in seinen Wald - ob er dort auch Frau Venus traf, ist freilich nicht ganz klar. Irgendwer erfand dann die Geschichte mit der Romfahrt zu Papst Urban und den blühenden Unsinn, pardon das Märchen vom blühenden Holzstab dazu. Sogleich machten sich die Herren Historiker auf die Suche nach einem "Venusberg" in der Nähe Roms - wobei sie freilich nur den "Sibyllenberg" fanden, der nicht so ganz paßte, ebenso wenig wie das Ende vom Lied: Da geht Tannhäuser nämlich nicht in den Himmel, sondern ins Reich der Venus ein. (Zugegeben, das konnte man ihm bei Wagner schwerlich zumuten angesichts der alternden Operndiva Wilhelmine Schröder-Devrient, die diese Rolle damals spielte :-) Und noch etwas paßt nicht: Es gab zwar im 13. Jahrhundert einen Papst namens Urban [IV.], aber der ist nie in Rom gewesen, sondern regierte in Viterbo. Rom war damals das Bordell Europas - ein besonderer Treppenwitz, von dem Wagner wohl nichts ahnte, als er sein Textbuch zusammen schrieb. Was er aber nicht nur hätte ahnen, sondern definitiv wissen müssen ist, daß die Heilige Elisabeth unmöglich etwas mit Tannhäuser oder irgend einem Sängerwettstreit auf der Wartburg zu tun gehabt haben kann - die war damals noch ein Kind und saß in Ungarn; erst später wurde sie für kurze Zeit Landgräfin von Thüringen - offenbar jagte man die junge Witwe gleich beim Tode ihres Mannes zum Teufel, pardon ins Kloster, wo sie sich dann brav der Armen und Kranken widmen durfte.
Der Sängerwettstreit auf der Wartburg ist tatsächlich überliefert (leider ohne Datum, kluge Köpfe wollen aber 1207 ausgerechnet haben, das Geburtsjahr der heiligen Elisabeth) - allerdings nicht mit einem Tannhäuser als Teilnehmer, sondern - neben Wolfram von Eschenbach (der bei Wagner als "Wolfram von Eschilbach" vorkommt), Bitterolf (bei Wagner: Biterolf) und Walter von der Vogelweide (den Wagner in der späteren Fassung des "Tannhäuser" heraus streicht) einem gewissen Heinrich von Ofterdingen - von dem wir freilich auch nicht viel mehr wissen, als daß rund 500 Jahre nach seinem Tode Novalis ein längeres Gedicht über ihn geschrieben hat. Nun sind aber gewitzte Wagner-Fans auf die Idee gekommen, daß auch Tannhäuser ja mit Vornamen "Heinrich" geheißen haben und folglich mit dem von Ofterdingen identisch gewesen sein könnte. Ja, was wäre nicht alles möglich...
Aber kommen wir zu Wagners persönlichen Beweggründen. Allmählich mußte man ja glauben, daß er einen Erlösungskomplex hatte. Mit Recht?
Wagner und die Unmoral.
Der Skandal um Cosima v. Bülow geb.
Liszt.
Wagners schäbiges Verhalten gegenüber seiner ältesten Tochter Eva.
Wagner hat den Vierteiler "Der Ring des Nibelungen" als sein Hauptwerk angesehen; er hat fast sein halbes Erwachsenen-Leben daran gearbeitet, von seinem 35. bis zu seinem 63. Lebensjahr. Als es dann 1876 endlich aufgeführt wurde, war das Resultat zwar quantitativ überwältigend - um nicht zu sagen niederschmetternd -, aber qualitativ enttäuschend. Wiewohl außergewöhnlich gut dokumentiert ist, was sich Wagner bei seiner recht eigenwilligen Bearbeitung des alten Sagenstoffes gedacht hatte, so hat Dikigoros doch nie ganz nachvollziehen können, was das alles sollte, und welche "Botschaft" Wagner dem Zuschauer vermitteln wollte. Daß er das - wie bei allen seinen Werken - beabsichtigte, steht außer Frage, sonst hätte er die Edda nicht derart umgebogen. Aber welche? Gewiß, Wagner widmete den Ring König Ludwig von Bayern "im Vertrauen auf den deutschen Geist"; aber eigentlich handelt er weniger von Geist als von Lug und Trug der Götter, Riesen, Zwergen und Helden; und wenn man mal die Kernaussage heraus schält, bleibt eigentlich nur die - durch nichts bewiesene - Behauptung übrig, daß Geld (oder Gold - damals gab es noch keine Papier-Teuros!) und Liebe nicht zusammen gehen. Aber was war daran neu? In der Thidreksaga ging es um Macht (das ist realistisch gedacht), im Nibelungenlied um Liebe, Eifersucht und Rache (das ist typisch für das abendländische Mittelalter), und in der Edda um den Fluch, der angeblich am Nibelungenhort klebte (das ist - wenn man böse will - anti-kapitalistisch gedacht, und wenn man denn die Juden allesamt für böse Kapitalisten hält - aber das tat Wagner nicht - vielleicht auch anti-semitisch.) Aber was hat Wagner nun selber so wesentliches beigetragen, daß er dafür Jahrzehnte brauchte? All die historischen Implikationen, die das Nibelungenlied mit sich bringt (über das Dikigoros an anderer Stelle schreibt) sucht man bei ihm vergeblich. Aber nehmen wir Wagner ruhig mal beim Wort: Er meinte also - wie so viele seiner Zeitgenossen im 19. Jahrhundert -, daß die Sagen der Edda "deutschen" Geist verkörperten. Meint Ihr das auch, liebe Leser? Habt Ihr mal die Edda gelesen? Oder nur irgendwelche Neubearbeitungen, die unter Titeln wie "Germanische [früher genauer: "Nordische"] Götter- und Heldensagen" durch die Sonderangebote der Versandbuchhandlungen geistern? Wart Ihr mal in Skandinavien, oder gar auf Island, bei den Nachkommen der Wikinger?
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Germanische Götter - nordische Götter. Der "nordische" Mensch. Deutsche und Germanen.
Fahrt mal nach Skandinavien - wollt Ihr euch wirklich mit diesen wikingischen Saufköppen in einen Topf werfen lassen? Die Skandinavier sind das Ergebnis einer langen Inzucht (wie sie ja auch der "Ring" beschreibt) und entsprechend degeneriert - und sie werden das nicht damit ausgleichen, daß sie neuerdings ein paar Neger aus Afrika importiert haben. Die Deutschen sind dagegen eine Mischung aus "ostischen", "westischen", "nordischen" und "alpin-dinarischen" Menschen, wie es die Nazis ausgedrückt hätten, oder aus germanischen, keltischen, slawischen und romanischen Elementen, wie man heute sagt. Und ihre Götter? Dikigoros ist kein Freund des allmächtigen Göttervaters, den sich die Juden, Christen und Muslime ausgedacht haben; er zieht das griechische, römische oder indische Pantheon vor; aber was die Skandinavier, insbesondere die Isländer ausweislich ihrer Sagen daraus gemacht haben (und was Wagner im "Ring" begierig aufgegriffen hat), empfindet er als in höchstem Maße unsympathisch, um nicht zu sagen als Perversion.
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Isolde: "Oh jemineh, mein Ohr tut weh!"
Während er noch am "Ring" herum schmiedete, schrieb Wagner ein weiteres Stück, das man in jeder Hinsicht als ein Abfallprodukt bezeichnen kann: "Tristan und Isolde". Der Stoff geht - wie das "Nibelungenlied" - auf eine Episode der Thidreksaga zurück [deren Held "Tristram" heißt]; dort ist es aber noch nicht die Geschichte eines Ehebruchs (sondern nur die einer aus Eigennutz sabotierten Brautwerbung). Dazu machten es erst im Hochmittelalter einige fantasievolle französische Dichter, von denen es etwas später auch deutsche Vers-Klempner übernahmen, unter anderem der - erst durch Wagner einigermaßen bekannt, ja berühmt gewordene - Schuster Hans Sachs, mit dem sich Wagner beschäftigte, weil er als nächstes ein Werk über die Meistersinger von Nürnberg schreiben wollte. Dessen verhunzte Bearbeitung verhunzte Wagner noch etwas mehr und unterlegte sie mit einer Musik, die Dikigoros an einen süßlich-schrillen Kaugummi erinnert. Aber das soll ja nicht unser Thema sein, sondern die Verfälschung der Geschichte, und da gibt es wenig zu bekritteln, da der "Tristan" halt keine Geschichte zum Inhalt hat - obwohl manche moderne Historiker ja auch die so genannte Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dazu zählen; und da Dikigoros anläßlich des Lohengrins schon etwas zur Rechtsgeschichte angemerkt hat, könnte er jetzt schreiben, daß es schwerlich zur sozialen Wirklichkeit des Mittelalters (oder auch der Neuzeit, das wollen wir doch mal festhalten) gehörte, daß man (oder frau) sich bei dynastischen Heiraten um "Liebe" etc. scherte - jedenfalls in dem romantischen Sinn von Verliebtsein, den das Wort heute hat. (Im Mittelalter war "liaban" noch wörtlich zu nehmen, nämlich "[mit dem Leibe] beschützen", d.h. mit fysischer Gewalt für jemanden eintreten, so wie es Lohengrin für Elsa tat.)
"Na und, ist 'ne Sage, das kannste doch nicht ernst nehmen," meint Frau Dikigoros, die eh kein großer Wagner-Fan ist. - Nein, Frau Gemahlin, man kann Sagen sehr wohl ernst nehmen, im allgemeinen (darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr) und im besonderen die von Tristan und Isolde. Der Ärger ist nur, daß Wagner Sagen nie ernst genommen hat, sondern es immer besser zu wissen glaubte. Hier hätte er ausnahmsweise sogar mal Recht haben können, denn schon die Fassung der Tristan-Sage, die auf uns gekommen ist, wird weder der historischen Wahrheit der Thidrek-saga (die ganz ohne "Liebestrank" auskommt - aber das ist eine andere Geschichte) noch der Mythologie gerecht, mit der sie verschmolz; und da Dikigoros beim "Lohengrin" nicht dazu gekommen ist, das zuende zu führen, will er das an dieser Stelle nachholen. Also: Das alberne Märchen von der Vertauschung der Getränke dürft Ihr getrost vergessen, liebe Leser; geht mal davon aus, daß es in der Original-Fassung nur einen Trunk gab. Brangäne war nämlich in der keltischen Mythologie gar nicht die Dienerin der Isolde, sondern die Dienerin des Gottes Bran - sie war die weiße Gans. Aber hat Dikigoros nicht eben noch geschrieben, das sei ein heiliges Tier gewesen, das positiv besetzt war? Ach, liebe Leser, das ist so eine moderne Vorstellung der schwarz-weiß-Maler, daß es rein "positive" und rein "negative" Eigenschaften gäbe. Jede Medaille hat zwei Seiten, die man so oder so auslegen kann, und hier liefert uns das indische Wort den Schlüssel: Wir haben es schon als "Hans[a]" kennen gelernt; aber es gibt auch die Langform P[a]ram[a]hans[a] - die heute noch ein beliebter "Künstlername" so genannter "Heiliger Männer" ist. Über ihre genaue Bedeutung kann man trefflich streiten. Die herkömmliche Meinung sieht darin wohl nur eine Art Bekräftigung; sie leitet die erste Silbe von "param" (traditionell, althergebracht, altehrwürdig) her. Aber das dürfte mit ziemlicher Sicherheit falsch sein, richtig vielmehr die Herleitung von "prama[t]", denn das hat just jene Doppeldeutigkeit, die auf die Sage paßt: es bedeutet [be]trunken, und zwar im Sinne von "intoxicated", also (auch) vergiftet. Wer zuviel Alkohol trinkt, gerät in einen Rausch, neigt erst zur sexuellen Ausschweifung, kann sich dann oft an nichts mehr erinnern und in manchen Fällen sogar am Alkohol-Exzeß sterben - es braucht also gar keinen Gegensatz zwischen zwei verwechselten Getränken!
Aber als ob diese Zweiteilung der Getränke nicht schon schlimm genug wäre, setzt Wagner noch eins drauf: Statt die Helden wie in der Sage einen "Vergessenstrank" mit einem "Liebestrank" verwechseln zu lassen, ersetzt er ersteren durch einen Todestrank - d.h. er unterstellt, daß die beiden Doppelselbstmord begehen wollen, um ihr Vaterland bzw. ihren Herrscher nicht zu verraten! Nein, liebe Leser, es geht Dikigoros hier nicht um die Frage der "historischen Wahrheit" dieser Motivation - die kann im Nachhinein eh niemand mehr nachprüfen; ihn stört etwas ganz anderes. Meint Ihr wirklich, man könne die Geschichte nur fälschen, indem man singuläre Ereignisse aus ihr falsch darstellt? Nein, so ist es nicht. Habt Ihr mal darüber nachgedacht, wie "Helden" in der Geschichte verstanden und dargestellt werden? Dikigoros hat dieser Frage an anderer Stelle eine ganze "Reise durch die Vergangenheit" gewidmet; hier nur soviel: Bei körperlich und geistig gesunden, "normal" (im Sinne der Natur) veranlagten Menschen gilt als Held derjenige, der möglichst viele Feinde erschlägt, dabei selber möglichst am Leben bleibt und einer Frau, die er möglichst den Feinden geraubt hat (Exogamie, um Inzucht zu vermeiden!), möglichst viele Kinder macht. Und das ist gut so - wer etwas anderes glaubt ist schlicht und einfach krank an Körper und Geist. Und diese Krankheit muß irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebrochen sein - just zu der Zeit, als Wagner seinen "Tristan" schrieb. Ob das eine bloße zeitliche Koinzidenz ist, ob er diese Entwicklung bestärkt oder gar hervorgerufen hat weiß Dikigoros nicht. Er stellt lediglich fest - und das wird niemand ernsthaft bestreiten können -, daß plötzlich eine "Umwertung aller Werte" (ein Nietzsche-Wort, das Dikigoros hier freilich etwas anders gebraucht) einsetzte: Als "Held" galt nun jeder, der den ["Helden"-]Tod auf dem Schlachtfeld gestorben war, und zwar unabhängig davon, was er dort ansonsten (d.h. in Bezug auf das Töten von Feinden) geleistet hatte oder nicht. Auch ob er seiner Frau vorher noch ein paar Kinder gemacht hatte oder nicht, und ob er sie versorgt oder unversorgt zurück ließ (Frauen gingen damals in der Regel noch keiner Erwerbsarbeit nach, und die Witwenrente - auch und gerade die von Kriegerwitwen - waren lausig; es gab auf sie noch keinen Rechtsanspruch, sondern allenfalls ein vom König verfügtes Gnadenbrot), spielte keine Rolle mehr. Nur ein toter Held war ein guter Held - und wenn sein (notwendigerweise gewaltsamer) Tod dazu noch besonders spektakulär war (wie der der "Martyrer"), konnte er gar zum Nationalhelden werden. Na bravo, Herr Wagner, das ist der rechte Geist! Hatte man die zwangsgepreßten Soldaten des 18. Jahrhunderts noch mit Gewalt in die Schlacht prügeln müssen - mit reichlich Feldgendarmen hinter den eigenen Reihen -, so eilten nun alle mit Begeisterung zu den Fahnen, um zu sterben - denn die Fahne ist mehr als der Tod, das wissen wir doch, oder? (Nein, liebe Leser, als die HJ dieses Lied einführte, war es schon nicht mehr so; in den Zweiten Weltkrieg sind die Menschen nirgendwo mehr mit jener naiven Begeisterung gezogen wie in den Ersten - sonst hätten sie dieses Liedchen ja gar nicht als Propaganda nötig gehabt!)
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"Die Meistersinger von Nürnberg" sind vielen Leuten sympathisch: Dikigoros, weil er die Musik recht ansprechend findet, den Neo-Nazis, weil es die letzte Oper war, welche die Nazis kurz vor Kriegsende noch zu spielen erlaubten, den Demokraten, weil die Geschichte unpolitisch ist, den Kapitalisten, weil sie immer gute Einnahmen einspielt, den Kommunisten, Sozialisten und Liberalen, weil sie gegen die Zünfte ist, den Konservativen, weil sie für die Zünfte ist... Moment mal, was schreibt Dikigoros denn da? Ist dieses Werk nun für oder gegen die Zünfte? Auch wenn es lange Zeit niemandem aufgefallen zu sein scheint: Seine Botschaft ist durch und durch widersprüchlich. Bis kurz vor Schluß tut Wagner alles, um die engstirnigen, in starren Formen befangenen Zunftmeister - allen voran den sprichwörtlich gewordenen Beckmesser - lächerlich zu machen; aber als dann sein strahlender Held obsiegt hat, singt er zum Abschluß das genaue Gegenteil: ein Loblied auf "die Meister"! "Das hat Wagner halt so geschrieben wie du deine Dissertation," meint Frau Dikigoros süßsauer, "erst die ganze Arbeit auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, und am Schluß alles umgeworfen und auf den Kopf gestellt; und dein Doktorvater hat's nicht mal gemerkt - was erwartest du da von einem Opern-Publikum?"
"Die Zünfte müssen so rein sein, als wären sie von Tauben gelesen", sagte man. Wer einen Hund erschlug, wenn auch in Notwehr, durfte nicht mehr Handwerker sein - er hatte in das Recht des Scharfrichters eingegriffen. [Fast wie in Indien - und über deren Jati-Kasten regen sich die Leute auf - aber das ist eine andere Geschichte, Anm. Dikigoros] Noch 1690 durfte ein ehelich geborener Bauernsohn zu Bunzlau nicht Schneider werden, weil seine Großmutter 50 Jahre zuvor ein uneheliches Kind geboren hatte. 1656 durfte zu Grünberg ein Lehrling nicht Handwerker werden, weil seine Mutter im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden vergewaltigt worden war. 1691 wird der Sohn eines Richters nicht zur Weißgerberei zugelassen, weil sein Großvater 40 Jahre früher bei der Kastration von Pferden geholfen hatte. Wer eine Ertrunkene aus dem Wasser zog und wäre es die eigene Frau gewesen, dessen Tochter durfte keinen Schneider heiraten, oder der mußte aus der Zunft heraus; ein Schweizer Rittmeister verlor noch 1757 seine Schwadron, weil er vier seiner Pferde aus dem Fluß gerettet hatte mit Hilfe eines Strickes, den vielleicht der Henker in der Hand gehabt hatte; wer seiner Frau einen Ehebruch verzieh, flog sofort aus der Zunft, und wer nicht seinen Ahnenpaß bis zu den Großeltern in Ordnung hatte, kam gar nicht hinein." Da hätte Wagner als notorischer Schuldenmacher Ehebrecher selber wohl so einige Probleme bekommen!
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Der "Parsifal" ist Wagners letztes und musikalisch gesehen sicher reifstes Werk. Aber letzteres ist selbst aus Dikigoros' Tastatur kein uneingeschränktes Lob - vielleicht hatte Nietzsche doch Recht, der es als "überreif" und "von süßer Fäulnis" empfand - wobei er sicher nicht an eine Trockenbeeren-Auslese dachte. Der Parsifal-Musik fehlt (mit Ausnahme des Klingsor-Monologs zu Beginn des 2. Aufzugs) der "Drive", wie man heute auf Germenglish sagt - ohne daß die meisten, die dieses Wort verwenden, genau wüßten, was es bedeutet. "Rhythmus-Steigerung in der Jazz-Musik" steht im Lexikon; aber das ist immer noch ungenau. "Rhythmus" kann man auch mit einer Neger-Trommel erzeugen, und um ihn zu steigern haut man einfach etwas fester drauf. Nein, "Drive" bedeutet, wie schon die wörtliche Übersetzung sagt, daß eine Musik in Fahrt kommt, daß sie Schwung bekommt - aber deshalb muß sich das nicht auf Swing oder Jazz beschränken. Echter "Drive" muß aus der Musik selber kommen, nicht aus der Instrumentierung, und schon gar nicht aus dem Schlagzeug. Ist Euch das zu abstrakt, liebe Leser? Vielleicht kennen einige von Euch noch aus den 60er Jahren die Titelmelodie der Fernseh-Kultserie "Raumpatrouille" von Peter Thomas? Das Stück hätte auch dann noch "Drive", wenn man es auf der Blockflöte spielen würde. (Na ja, vielleicht nicht ganz, aber zwei Blockflöten würden ausreichen; eine müßte den genial geführten Baß ersetzen, der das Stück fast ohne Schlagzeug auskommen läßt - da hätte sich Wagner mehrere Scheiben von abschneiden können.) Im übrigen ist der besagte Klingsor-Monolog eine äußerst schwierige und undankbare Rolle, da er recht unharmonisch gegen eine ebenso unharmonische Instrumental-Begleitung gesungen werden muß. Dagegen ist z.B. die Rolle des Gurnemanz so einfach zu singen, daß sie jeden auch nur mittelmäßigen Baß gut aussehen läßt - dafür schleppt sich der Gesang so langsam und schwerfällig (Wagnerianer würden sagen: "majestätisch") dahin, daß es zum Einschlafen ist. (Von wegen: "Zum Raum wird hier die Zeit" - wenn man Glück hat wird sie zum Traum, sonst zum Albtraum :-)
Aber genug der musikalischen Vorrede, kommen wir zum Inhalt. Der geht auf den "Parzivál" Wolfram von Eschenbachs zurück. Der und Wagner - das ist auch eine Geschichte für sich: Im "Tannhäuser" verballhornt er erst seinen Namen zu "Wolfram von Eschilbach", dann streicht er die Rolle in der Neubearbeitung ganz. Und aus seinem Parzivál macht er - in der Annahme, daß es ein französischer Name sein müsse - einen "reinen Toren [pur fou]", und das verballhornt er zu "Parsifal". Wenn es nur das wäre... Wie Dikigoros' Freund Wolfgang Greub überzeugend dargelegt hat, war Wolfram von Eschenbach nicht nur der größte Dichter, sondern auch der größte Historiker des Hochmittelalters, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. (Was sind dagegen die seichten Gedichte eines Walther von der Vogelweide, die Fragmente eines Crétin, pardon Crétien de Troyes oder die von vielen Köchen verdorbenen Suppen, die Gottfried von Straßburg anrührte? Stümperwerk! Wie kann man es wagen, die im selben Atemzug mit dem Autor des "Willehalm" und des "Parzivál" zu nennen?) Wagner wagte es und machte damit seinem Namen Ehre - oder auch nicht. Er suchte und fand bei Wolfram einmal mehr das Grundmotiv all seiner Stücke: die Erlösung von langem Leiden.
Nein, Amfortas hatte nicht etwa Wagners "Parsifal" gehört, sondern seine Leiden resultierten vielmehr aus der Wunde, die ihm ein geheimnisvoller Speer geschlagen hatte - der ebenso vergiftet war wie Morolts Schwert im "Tristan". Und nun stellt Wagner die Geschichte völlig auf den Kopf, indem er die Suche des Reisenden Parcevál nach der Gralsburg zur Suche nach dem vermaledeiten Speer macht und die Rolle des Klingsor - der doch im Original nur irgendein böser Burgherr ist, der zum Gang der Handlung kaum etwas beiträgt - in geradezu peinlicher Weise aufbläht zum Verursacher aller Übel, der sich selber entmannt und Kundry verhext hat - alles nur, weil er den blöden Pott (der doch eh zu nichts nutze ist, denn er hilft Amfortas ja offenbar nicht) für sich selber haben will. Wohl gemerkt, liebe Leser, man kann es nachvollziehen, wenn jemand den Gral sucht - so man ihm denn besondere Heilkraft zutraut (aber den Gral hat Amfortas ja schon, und der hilft ihm wie gesagt gar nichts); man kann auch nach Heilkräutern suchen, wie Kundry, die dafür um die halbe Welt reist. [Exkurs: Nebenbei bemerkt zeigt sich da mal wieder die Undankbarkeit der abergläubischen Menschen des Mittelalters - und der frühen Neuzeit - gegenüber den heilkundigen Kräuterfrauen: statt ihre Hilfe zu schätzen, machen sie die zu "Hexen" und schicken sie am Ende auf den Scheiterhaufen - was noch angehen mag, wenn es sich um Abtreibungskräuter handelt; aber sonst...? Nun, das 20. Jahrhundert ist ins gegenteilige Extrem verfallen. Nein, nicht etwa auf die "Endlösung", die Wagner dem armen Klingsor hat angedeihen lassen - mann will ja weiter seinen Spaß haben, aber ohne die Konsequenzen zu tragen: Deshalb zahlt man heute den Hexern und Hexen in weißen Kitteln, die die Kinder "wegzaubern", noch bevor sie auf der Welt sind, fette Honorare aus den Töpfen der Krankenkassen, die nicht zuletzt darum - es fehlen ja nicht bloß die Ausgaben für die Abtreibungen auf Krankenschein, sondern auch die Einnahmen, wenn die potentiellen Beitragszahler noch vor ihrer Geburt ermordet werden - am Rande der Pleite krebsen! Fragen wir uns, was schlimmer ist: Die Völker Europas haben im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Kriege, Seuchen, Hungersnöte und Hexenverfolgungen letztlich überlebt, weil immer neue Menschen nachgeboren wurden; dagegen werden sie das Ende des 21. Jahrhundert schwerlich erleben, obwohl oder weil sie so "friedlich" und satt geworden sind - es sei denn, sie würden, statt weiterhin die eigenen Kinder zu morden und als vermeintlichen "Ausgleich" dafür fremde Feinde ins Land zu lassen, wieder die Scheiterhaufen anzünden und die modernen Hexer und Hexen allesamt verbrennen. Exkurs Ende] Und man mag im "Parzivál" - wie die meisten es getan haben - die Vorwegnahme des neuzeitlichen "Bildungsromans" sehen und annehmen, daß der junge Mann auf die Reise zu sich selbst geschickt wird, bis er die Gralsburg wieder findet und die richtige Frage stellt. (Merke: die meisten falschen Ergebnisse in der Geschichte - und erst recht in der so genannten Geschichts-"Wissenschaft" - kommen durch falsche Fragestellungen zustande :- ) Aber auf die Suche gehen nach dem Speer? Was will man ausgerechnet damit? Wagner gibt eine Antwort, die so albern ist, daß das Publikum eigentlich in schallendes Gelächter ausbrechen müßte bei der Textzeile: "Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug." Na, wo kommen wir denn da hin?
Drehen wir die Frage um: Was steckt psychologisch hinter dieser krausen Idee Wagners? Seine Erben haben sich ja schon so manche groteske Aufführung für Bayreuth einfallen lassen; aber leider werden immer noch große Teile seines Nachlasses unter Verschluß gehalten, und so ist auf diese Frage wohl noch niemand gestoßen (mit oder ohne Speer :-) Vielleicht nagte im Alter das schlechte Gewissen am Hurenbock Wagner? Oder die Angst, sich eine Krankheit geholt zu haben, wie sein Ex-Freund Nietzsche? Was soll sonst die völlig aus der Luft gegriffene neue Rolle der Kundry: Sie hat Amfortas verführt, und deshalb ist er am Speer erkrankt. So so, da hätte die gute Kundry, wenn sie "den Schaden zu vergüten" (Originaltext Wagner :-) bemüht gewesen wäre, wohl besser schon mal das Penicillin erfunden oder herbei gehext, nicht wahr? Denn wer nur kann ihr widerstehen? Jemand, der "keusch" ist - und das ist - der gute Winnetou, pardon Parsifal. Macht das Sinn? Kaum: Selbst der dümmste Jüngling ohne die geringste "höfische" Bildung wird immer noch einen Speer hoch bekommen, wenn er auf eine Frau trifft, die willig ist - wahrscheinlich wird er ihren Reizen sogar umso eher erliegen, je weniger er von der Welt weiß. Vorausgesetzt, sie hat solche Reize - wenn Dikigoros sich so die Darstellerinnen anschaut, die im Laufe der Jahre die Kundry gespielt haben (und bis heute spielen), findet er nicht, daß da an Parsifals "Keuschheit" allzu hohe Anforderungen gestellt werden; und als "Widerstandskämpfer" ist gerade er denkbar ungeeignet, denn auf solche Frauen können wirklich nur Männer stehen, die noch nie eine andere gesehen und keinerlei Erfahrung haben... Wer wird denn nun am Ende erlöst? Wagner schafft das doppelte Lottchen: Amfortas und Kundry! Frage: Hätte man die beiden da nicht gleich heiraten lassen können? Wäre doch ein schönes Happy-end gewesen!
(Fortsetzungen folgen)
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