Dossier der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)
Der dritte Völkermord Russlands an den Tschetschenen

Hintergrund des gegenwärtigen Krieges

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Bombenkrieg als Wahlkampfauftakt

Am 5. September 1999 haben die russischen Streitkräfte einen neuen Bombenkrieg gegen das kleine Kaukasusland Tschetschenien angefangen. Er begann drei Monate vor den Wahlen zur russischen Staatsduma am 19.12.1999. Russland führte ihn unter dem Vorwand der "Terrorismusbekämpfung". Zu den schrecklichen Bombenattentaten in Moskau und Wolgodonsk, bei denen mehr als 300 Menschen ums Leben kamen, gebe es eine tschetschenische Spur, behauptete die Propaganda der russischen Regierung.

Eine solche Spur hat sich bis heute nicht nachweisen lassen. Es verhärtete sich vielmehr der Verdacht, dass der russische Geheimdienst FSB hinter den Anschlägen stehen könnte. So veröffentlichte der Independent das Geständnis eines russischen Generals, der den FSB beschuldigte, für die Anschläge verantwortlich zu sein. (Independent, 7.2.2000)

Die Witwe des sowjetischen Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, Jelena Bonner, bezichtigt die russische Führung, mit dem neuen Tschetschenien-Krieg innenpolitische Probleme zu überdecken. Sie sagte am 4.11.1999 vor dem Auswärtigen Ausschuss des US Senats: "Der erste Krieg wurde gebraucht, damit Präsident Jelzin wieder gewählt wurde. Dieser Krieg wird gebraucht, um die Popularität des jetzigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin in den Meinungsumfragen zu erhöhen, den Boris Jelzin als Nachfolger ausgewählt hat. Für die russische Armee ist der Krieg attraktiv, weil er den Generälen die Möglichkeit gibt, Rache zu nehmen für die Niederlagen in Afghanistan und im ersten Tschetschenien-Krieg. Sie meinen, dass Alexander Lebed, die freie Presse und die öffentliche Meinung Schuld haben an der Niederlage. Das Regime hat keinen anderen Weg gefunden als den Krieg, um die Öffentlichkeit hinter sich zu scharen, von der ein Drittel von 51 Millionen unter der Armutsgrenze lebt."

Nach Boris Jelzins überraschendem Rücktritt zum Jahreswechsel 1999/2000 bereitete sich der ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin gezielt auf seine Wahlen zum russischen Präsidenten vor. Entgegen den Voraussagen von Wahlforschern wurde er schon im ersten Wahlgang am 26. März 2000 zum Präsidenten gewählt. Nach umfangreichen Recherchen der regierungskritischen Zeitung The Moscow Times war dies nur durch massiven Wahlbetrug möglich. So wurden in vielen Regionen säckeweise gefälschte Wahlzettel in die Wahllokale geschleppt oder die Gouverneure massiv angehalten, für Putin Stimmen zu sammeln, um an der Macht zu bleiben. (The Moscow Times, 14.10.2000)
(Statement of Elena Bonner for the Senate Foreign Relations Committee, 4.11.1999, verbreitet durch Institute for Democracy in Eastern Europe, Washington, http://www.idee.org)

Nach nahezu 16 Monaten Krieg gab der Kreml im Dezember 2000 seine neue Strategie bekannt: In 200 von 357 Ortschaften sollten russische Militärbasen eingerichtet werden. Die ehemalige Großmacht plant möglicherweise, sich für viele Jahre in der Kaukasus-Republik festzusetzen. Ein zweites Afghanistan droht.

Erschießungen und Massaker

 (Töten von Mitgliedern einer Gruppe nach der Völkermordkonvention Art II a) Nach vielen vorliegenden Berichten und Zeugenaussagen wurden Zivilisten tschetschenischer Nationalität, aber auch Angehörige anderer Volksgruppen überall im Land wahllos von russischen Truppen einzeln oder in kleineren oder größeren Gruppen getötet. Russische Soldaten feuerten auf Zivilisten an Bushaltestellen, auf Menschenansammlungen in Straßen und auf Märkten oder in Moscheen. Sie ermordeten Menschen bei Hausdurchsuchungen und Plünderungen, Frauen nach Vergewaltigungen. Sie setzten Flammenwerfer und Handgranaten gegen Kinder, Frauen und unbewaffnete Männer ein, schossen auf Busse, auf zu Fuß flüchtende Menschengruppen, auf Flüchtlinge in Einzelfahrzeugen oder Konvois. Die Leichen der Ermordeten wurden häufig mit Benzin übergossen, verbrannt und in Massengräbern verscharrt, oder die Häuser, in denen die Toten lagen, wurden in die Luft gesprengt.

Menschenrechtsorganisationen und westliche Medien haben über eine Reihe von größeren Massakern berichtet, denen viele hundert Tschetschenen zum Opfer gefallen sind. Derartige Massenmorde wurden u.a. in Alkhan-Jurt, in Staropromylowski bei Grosny, in Katyr-Jurt und in Aldi bei Grosny begangen. Vielfach wurden auch schwer verwundete tschetschenische Kämpfer liquidiert. Die amerikanische Hilfsorganisation "Ärzte für Menschenrechte" hatte am 27.2.2000 erklärt, die Hälfte von 326 befragten tschetschenischen Vertriebenen hätten über Erschießungen von Zivilisten berichtet.

Bombardierungen, besonders die Zerstörung der Stadt Grosny 

Landesweit starben viele tausend Menschen bei Luftangriffen auf zivile Ziele. So wurden Plätze, Märkte, Dörfer und Straßen, Flüchtlingskonvois und selbst mit Rotkreuzzeichen gekennzeichnete Krankenwagen, öffentliche Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Moscheen, Industrieanlagen und Fernsehstationen von der russischen Luftwaffe bombardiert. Menschen wurden bei Feldarbeiten oder beim Holzsammeln aus der Luft angegriffen und getötet. Gnadenlos wurde die tschetschenische Hauptstadt Grosny (früher etwa 400.000 Einwohner) fünf Monate lang bombardiert und dem Erdboden gleichgemacht. Die OSZE-Delegierte Audrey Glover stand fassungslos vor den Ruinen Grosnys und fühlte sich an das zerstörte Dresden von 1945 erinnert. Wiederholt beschossen Flugzeuge und Hubschrauber fliehende Einwohner. Entlang der Ausfallstraßen seien Felder Anfang Dezember 1999 mit Leichen übersät gewesen. 

Das Ausmaß der Verwüstung Grosnys sei so groß, dass kaum ein Gebäude zu finden sei, das nicht durch Artilleriebeschuss beschädigt, von Bomben bis auf die Grundmauern zerstört oder von Kugeln durchsiebt sei, schrieb Michael Gordon in "The International Herald Tribune". Nach der Eroberung der Stadt berichteten Journalisten und Einwohner über Plünderungen, Vergewaltigungen, ungezählte Einzel- und Massenerschießungen und In-die-Luft-Sprengen von Bewohnern durch russische Soldaten in vielen Stadtteilen. Straßenweise wurden ganze Wohnblocks gesprengt, die Tote und möglicherweise noch Lebende in ihren Kellen begruben.

Filtrationslager

Nach der Einrichtung der sogenannten Filtrationslager wurden in Städten und Dörfern Tausende Tschetschenen, ganz überwiegend Zivilisten, in die Lager deportiert. Vielfach wurden einzelne oder kleinere Gruppen willkürlich an Straßen und auf Plätzen verhaftet, Menschen wurden nachts entführt, in einer ganzen Reihe von Fällen wurde Krankenhauspersonal – Ärzte und Schwestern – verschleppt. Nach der Ankunft im Lager mussten die Gefangenen ein Spießrutenlaufen absolvieren, wobei sie von den Wärtern mit Holzknüppeln, Gummischlagstöcken oder sogar mit Eisenhämmern geschlagen wurden. Überall wurden Frauen und Männer vergewaltigt. Misshandlungen und Folter sind an der Tagesordnung. Unvorstellbare Haftbedingungen, völlig unzureichende Ernährung, keine sanitären Anlagen, tagelanges Sitzen ohne Kleidung in kalten Haftzellen, Versprühen von Tränengas in den Zellen, nächtelanges Stehen mit erhobenen Händen, haben viele der Überlebenden zu Invaliden gemacht und zu schweren Traumatisierungen geführt. 

Kriegsgefangene Tschetschenen sind ebenfalls Folterungen und Misshandlungen ausgesetzt. Trotz der traditionellen Zurückhaltung der Tschetschenen gibt es zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen aus allen Landesteilen. Während der Massaker, der Beschießung von Flüchtlingstrecks und den Bombardements von Städten und Dörfern wurden Zehntausende Frauen, Kinder und Männer verwundet und traumatisiert. Tausende haben bleibende seelische und körperliche Schäden erlitten. Eine von Human Rights Watch zusammengestellte Ausstellung zeigt Bilder, die Flüchtlingskinder gemalt haben. Darauf sind brennende Häuser, Bomber und Krieg zu sehen. Das seelische Leid der Kinder kann ein Leben lang andauern.

 

Bombardierungen

Durch die systematische Bombardierung von Städten und Dörfern, durch drohende Folter, Vergewaltigung oder Ermordung, wurden Hunderttausende Einwohner Tschetscheniens zu Flüchtlingen und Vertriebenen. Wahrscheinlich wurde mindestens die Hälfte, möglicherweise bis zu zwei Dritteln der Bevölkerung zu Flüchtlingen oder lebt bis heute in Flüchtlingslagern. Die Umstände der Massenflucht und Massenvertreibung, besonders im Winter 1999/2000, unter Beschießung, Bombardement, ohne medizinische Versorgung, ausreichende Ernährung und Trinkwasser wird eine unbekannte, aber hohe Zahl von Opfern gefordert haben. Vor allem Alte, Kranke, Behinderte, Schwangere, Kleinkinder und Säuglinge haben unter diesen Bedingungen geringere Überlebenschancen. 

Die systematische Behinderung humanitärer Hilfe und internationaler Beobachter hat diese Situation immer wieder dramatisch verschärft. Die gezielte Zerstörung der Stadt Grosny, die Unterbrechung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, die Zerstörung von Wasser- und Elektrizitätswerken und –leitungen, die Beschießung von Ölquellen und -pipelines, die seit Monaten um Grosny in Flammen stehen, haben der tschetschenischen Bevölkerung Lebensbedingungen auferlegt, denen viele körperlich nicht gewachsen sind. Durch die Behinderung humanitärer Hilfe für Flüchtlingslager sind dort Krankheiten, u.a. Tuberkulose, ausgebrochen, die viele Opfer gefordert haben.

Russische Soldaten als Kriegsopfer

Nach offiziellen russischen Angaben sind bis heute etwa 3.000 russische Soldaten in Tschetschenien umgekommen. Es lässt sich jedoch nachweisen, dass ihre Verluste wesentlich höher sind. In den beiden Tschetschenienkriegen haben sowohl Jelzin als auch Putin rücksichtslos junge unerfahrene, schlecht oder noch nicht ausgebildete Rekruten eingesetzt, die in großer Zahl bei den Kämpfen mit dem tschetschenischen Widerstand gefallen sind. Viele Soldaten starben außerdem an den Folgen ihrer Verletzungen während des Transports oder in einem Krankenhaus. Verschiedene Quellen sagen aus, dass russische Soldaten als Gefangene getötet wurden. Nicht wenige russische Soldaten desertierten und sollen in den Wäldern an Hunger oder Kälte gestorben sein.

Anfang Oktober 2000 hat das russische Verteidigungsministerium seine Praxis, jede Woche Verlustzahlen anzugeben, eingestellt. Dafür gab es zwei Gründe:

  1. Die Angaben wurden dermaßen widersprüchlich und von vielen Seiten in Frage gestellt, dass die Militärs fürchten mussten, den letzten Rest an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
  2. Trotz mehrerer Erklärungen von Militärs und Politikern, der Krieg sei schon zu Ende oder kurz vor seinem erfolgreichen Abschluss, ist noch immer kein Ende der Kampfhandlungen in Tschetschenien in Sicht. Dies bedeutet jedoch, dass auch die Verluste unter den russischen Soldaten immer weiter ansteigen werden.

Die Union der russischen Soldatenmütter behauptete schon im ersten Tschetschenienkrieg, dass dreimal mehr Soldaten umgekommen waren, als die russischen Militärs angegeben hatten. Auch jetzt gehen sie von einer dreifach höheren Zahl an Gefallenen aus. Sie schätzen, dass im laufenden Krieg zwischen 6.000 und 8.000 Soldaten gefallen sind. Nach inoffiziellen Angaben aus Nato-Kreisen waren schon im Sommer 2000 12.000 russische Soldaten ums Leben gekommen.

INDEX

Bombenkrieg als Wahlkampfauftakt

Erschießungen und Massaker

Zerstörung Grosnys

Filtrationslager

Bombardierungen

Russische Soldaten als Kriegsopfer

[Seite 2]

Tschetschenienpolitik der Bundesregierung

Westliche Welt gescheitert

Bilanz des dritten Völkermords an den Tschetschenen

[Seite 3]

Forderungen

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QUELLE

 

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