Der Wolf und der Jäger
www.kampfhund-areal.deRaffgier, du Monstrum, dessen Augen blind
Für alle Gaben der Götter sind,
Werd' ich denn gegen dich mein Leben lang vergeblichschreiben?
Wie lange soll mein Werk tabu für deine Ohren bleiben?
O Mensch, für weise Lehren ewig taubeNuß,
Sagst du denn niemals: 'Schluß! Genießen wir das Hier und Jetzt!'
Mach schnell, da man sein kurzes Leben nutzen muß,
Mein reund! Ich schrei' dies Wort, weil es ein ganzes Buch ersetzt:
Genieße! 'Mach' ich!' Aber wann? 'Von morgen an!'
Weißt nicht, daß dich bis dann der Tod schon haben kann?
Genieße gleich! Sopnst wird das Schicksal dich ereilen,
Wie Wolf und Jäger es in meiner Fabel teilen!
Der Jäger hat gerade einen Hirsch geschossen,
Da kommt ein Kitz, das gleich dem toten Waldgenossen
Gesellschaft leistet. Beide liegen tot im Moos.
So eine Beute fällt nicht jedem in den Schoß;
Ein Hirsch, ein Kitz, das reicht bescheidnen Jägern. Doch
ein Wildschwein reizt nun unseren Bogenschützen noch,
Ein wahres Monstrum an Gewicht und Kraft.
Er schickt's zum Styx: Doch nur mit Mühe schafft
Die Parze diesen Faden. Die Todesgöttim hackt
Sehr oft, bis sie den Todgeweihten richtig packt.
Trotzdem fällt nun das Trumm durch Wucht des Treffers um.
Jetzt reicht's wohl!-Von wegen! Stumm
Kann nichts die Freßgier einer Kriegsmaschine machen.
Dieweil das Schwein sich anschickt, noch mal zu erwachen,
Da sieht der Schütze einer Furche längs ein Rebhuhn laufen,
ein karger Zuwachs zu dem Totenhaufen.
Und dennoch spannt der Jäger seinen Bogen wieder.
Das Wildschwein aber rafft sein letztes Leben mit Gestöhn,
Rammt, schlitzt den Mörder auf, bricht dann gerächt im Tode nieder,
Und das Rebhuhn dankt ihm schön.
Der erste Teil der Fabel ist an den Gierhals adresssiert:
Dem Geizhals aber soll der Rest gewidmet sein.
Es kommt ein Wolf vorüber und sieht, was hier passiert.
'Fortuna!' ruft er. Dich lad' ich zum Essen ein!
So viele schöne Leichen! Und so lecker! Doch
Die muß man freilich rationieren.
(Der übliche Vorwand bei geizigen Tieren.)
Da hab' ich', sagt der Wolf, 'in einem Monat noch.
Eins, zwei, drei, vier Kadaver, wenn ich rechnen kann.
Dann ess' ich da vier Wochen dran.
Und übermorgen fang' ich an; doch unterdessen
Werd' ich die Bogensehne essen; das scheint mir
wohlbemessen.
Die ist aus Darm gemacht, das hab' ich doch gerochen!'
Und gierig stürzt der Wolf, nachdem er ausgesprochen,
Sich auf den Bogen, der geht los, und quer durchstochen,
So fällt der Schlauberger als Leiche hin,
Womit ich wieder bei dem Wort 'Genieße!' bin.
Der Tod der beiden Raffer hat es doch bewiesen:
Die Raffgier raffte jenen hin,
Der Geiz zerstörte diesen!
La Fontaine, Die schönsten Fabeln, Aus dem Französischen von Thomas Keck, mit farbigen Illustrationen von Rolf Köhler, Insel-Taschenbuch
Der Text der vorliegenden Auswahl folgt der Pléiade-Ausgabe der Oeuvres complètes (1: Fables, contes et nouvelles), Paris 1954.
Der Wolf und der Jäger. Le Loup et le Chasseur (VIII, 27)
Gruß Kampfhund! Trotz aller Sorgen ein bisschen lächeln, liebe Leser!