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In medizinisch-botanischen Gärten (Teil 1)
© potato-klaus 1998
weiter zu Teil 2
Über die Umstände, wie die Kartoffel von Amerika in alle Teile Europas verbreitet wurde, sind die geschichtlichen Daten teils lückenhaft, teils zweifelhaft, so daß man bei einzelnen Phasen hinsichtlich Orte und Beteiligte nur von Vermutungen ausgehen kann. Einer der Gründe hierfür ist die Bezeichnung »papa« oder »batate« oder Topinambur für gleiche aber auch für verschiedene Pflanzen. Die Kartoffel war (noch) unwichtig, also wurde auch nicht sorgsam für spätere Geschichtsschreiber dokumentiert. Wichtiger aufzuschreiben (und zu drucken) war die Heilsgeschichte und die genealogischen Verflechtungen des Adels1).Eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der Kartoffel in Europa sind die Unterlagen über die Auseinandersetzungen zwischen Pächtern und Steuereintreibern bzw. zwischen den Bauern und der Kirche über den Zehnten2).
Ein erstes Dokument dieser Art ist die Verordnung von Kaiser Karl V. vom 1.Oktober 1520, in der festgelegt wird, daß kein Zehnter erhoben werden soll von den neuen Pflanzen3). Es ist klar, daß dieses von den örtlichen Steuererhebern anders gesehen und auch anders gehandhabt wurde. Je stärker der Anbau von Tabak, Mais und insbesondere Kartoffel zunahm, desto häufiger wurden auch die Streitereien über den Zehnten. Es ist festzustellen, daß es manchmal mehr als vierzig Jahre nach dem ersten Anbau der Knolle dauerte, bis eine Steuer oder der Zehnte erhoben wurden. Selbst das Reichskammergericht mußte sich mit den örtlichen Streitereien um den Kartoffelzehnten befassen.
Eugen von Rodiczky, Ende des 19. Jahrhunderts Professor an der Landwirtschaftlichen Akademie in Ungarisch-Altenburg, in seiner »Biographie der Kartoffel«:
«Der Mais unternahm, als überall gern gesehener Eroberer, einen solennen, einen festlichen Triumphzug durch Europas Gefilde, der Tabak nahm, trotz fürstlicher Verbote und päpstlicher Bannstrahlen, mit eiserner Konsequenz Besitz von unseren Geschmacksorganen, die Kartoffel hingegen konnte sich nur mühselig Bahn brechen, nur Schritt für Schritt vordringen.«
Zu Beginn der Renaissance, aber auch schon während des Spätmittelalters, waren Pflanzen wichtige Quellen für die Gewinnung von Medikamenten; die Mehrzahl der Botaniker (Philip von Zesen nennt sie »Krautbeschreiber«) waren von Ausbildung und Beruf Apotheker und Ärzte. Ihr Wissen dokumentierten sie vielfach in mit Holzschnitten illustrierten Kräuterbüchern. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts wurden mehr als zwanzigtausend Pflanzen katalogisiert. Mit der Entdeckung Amerikas kam ein exotischer Einschlag dazu: Die aus der neuen Welt stammenden Pflanzen (und Tiere) wie Bohnen, Mais, Tabak, Kartoffel, Ananas, Tomate und Kautschuk waren Gegenstand gelehrter Untersuchungen. Eine der frühesten Beschreibungen der nicht-europäischen Tier- und Pflanzenwelt stammt von Gonzalo Francisco de Oviedo y Valdés, der nach langer Verwaltungstätigkeit in den neuen spanischen Kolonien eine Naturgeschichte »Westindiens« anfertigte und 1553 in Spanien veröffentlichte, wobei er nicht vergaß, von den magischen indianischen Zauberkräften zu berichten (machte schließlich die eigenen Anstrengungen gefährlicher!), die Menschen in Tiere verwandeln konnten.
Soweit aus den Berichten über die Reisen des Columbus und seinem Bordbuch erkennbar ist, brachte er von seiner ersten Reise weder die Kartoffel noch die Syphilis4) mit, aber etwa zehn Bewohner der Inseln.
Da Columbus die Entfernung zwischen Lissabon und Zipangu mit 5.000 km (Ptolemäus hatte für den Erdumfang 29.000 km, Erathosthenes 40.000 km errechnet) angab, mußte er zum Beispiel stets weniger Seemeilen ins Bordbuch eintragen als er tatsächlich an einem Tage gesegelt war. Als die Fahrt an der Südküste Kubas keinen Zweifel am Inselcharakter mehr erlaubte, ließ er die Mannschaft antreten und schwören, Kuba als einen Teil asiatischen Festlandes identifiziert zu haben. Und so stand es denn auch im Bordbuch.
Mit der zweiten Reise (1493/1494) kamen – mehr als Kuriosum – auch die Süßkartoffeln nach Spanien und von da sicherlich sehr schnell auch nach Nord-Italien. In Anbetracht der immer wiederkehrenden Hungersnöte aufgrund witterungsbedingter Mißernten von Weizen und Gerste, die wichtigsten und vielfach einzigsten Feldfrüchte, nahmen schon die Matrosen auf den Schiffen des Columbus' Kartoffeln, Batates, mit: Alles was irgendeinen Wert hatte oder haben konnte, wurde nach Europa verschleppt, Edelmetalle waren der Mannschaft5) nicht zugestanden, also nahmen sie – auch weil das Volk praktischer veranlagt war – von den neuentdeckten Inseln die Dinge mit, die die behüteten Herrschaften nicht haben wollten. Zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert (und noch bis weit ins 19. Jahrhundert) drehte sich alles ums Essen. »Die raffinierten Tafelfreuden feingebildeter Menschen sind nur selten ihrer Gesundheit abträglich«.
In den Volksmärchen der bäuerlichen Welt erhält der siegreiche Held nicht unbedingt die Hand der holden Prinzessin oder einen Batzen Gold als Belohnung für die Drachentötung, sondern ein reichliches und gutes Essen6). Bei den witterungsbedingten Mißernten handelte es sich zumeist um Großwetterlagen, die sich fast über ganz Europa erstreckten, so daß ein überregionaler Ausgleich an Nahrungsmitteln – auch wegen der Transportprobleme – nicht möglich war und auch nicht in den Überlegungen der Betroffenen bestand.
Von 1400 bis 1473 gab es allein in Kastilien fünfunddreißig Hungerjahre. Zwischen 1371 und 1791 erlebt das reiche Florenz – so Braudel – insgesamt einhundertundelf Hungerjahre bei nur sechzehn ausnehmend guten Ernten. Eine schlechte Ernte bedeutete Hunger, zwei waren eine Katastrophe, der hunderttausende zum Opfer fielen. Hungerzeiten in Spanien waren ferner die Jahre vor 1851 (wie in ganz Europa) und 1877.
Schon Mitte des 16. Jahrhunderts wird die Batate als Schiffsproviant auf spanischen Schiffen mitgeführt. 1623 kapert ein französischer Segler vor Neufundland ein englisches Schiff und findet an Bord ein Faß mit »Bataten«, die wie dicke Rüben aussehen, aber unvergleichlich besser geschmeckt haben.
Felicitas Hoppe veröffentlicht in der FAZ am 30.August 1997 mit Hinweis auf Kartoffeln in der Überschrift eine schöne Fiktion über Magalhães (Magellan) Reise um die Welt im Jahre 1519:
»Im Auftrag Kaiser Karls des Fünften Auslaufen aus Sevilla am zehnten August 1519 in westlicher Richtung mit fünf Köchen auf fünf Schiffen. Am einundzwanzigsten Oktober 1520 erreicht Magellan die nach ihm benannte Straße. Verlust zweier Köche und zweier Schiffe. Am achtundzwanzigsten November Weiterfahrt mit nur noch drei Köchen auf drei Schiffen durch den Pazifischen Ozean auf nordwestlichen Kursen. Endlich, am sechsundzwanzigsten März 1521, hallt vom Mastkorb der langersehnte Schrei: Brot! Die drei Köche stürmen an Deck. Jeder von ihnen möchte der erste sein, um frische Vorräte für die halbverhungerte Mannschaft zu beschaffen und auf diese Weise seinen Kopf zu retten. Dabei, geraten sie einander in die Quere. Als erster fällt der Koch der ›Trinidad‹. Der Koch der ›Conception‹ kommt mit einer leichten Kopfverletzung davon. Der Koch der ›Victoria‹, ein vom Skorbut befallener Italiener, springt mit letzter Kraft und drei leeren Säcken in das kleine Landungsboot. Auf der Insel angekommen, schleppt er in großer Eile alles zusammen, was er in den Hütten der Eingeborenen zu fassen bekommt. Nach ihm hat man die Insel ›Diebesinsel‹ benannt. Weiterfahrt. Am siebenundzwanzigsten April fällt der Koch der ›Conception‹ an der Seite seines Herrn in einem Gefecht auf der philippinischen Insel Mactan. Weiterfahrt. Am achten September 1522 erreicht die ›Victoria‹ den Hafen von Sevilla, und zwar so: sechzehn verhungerte Gestalten, ein Koch und der Dichter Pigafetta. Die Erde ist rund.«
Dumm gelaufen, muß man da sagen. Erster Bericht über einen Knollendiebstahl?
Die neue Knollenpflanze wurde im Spanien des 16. Jahrhunderts nicht großflächig angebaut; in Italien, wohin die Kartoffel durch die spanischen Verbindungen rasch gelangte, erkannte man schnell (gezwungen durch die größere Bevölkerungsdichte und der damit einhergehenden Unterernährung) den Nutzen der neuen Pflanze und baute sie in Gärten und auf kleinen Äckern dementsprechend an. Angeblich habe Columbus veranlaßt, daß an der spanischen Südwestküste, bei Huelva, Palos und Bayona, Bataten angepflanzt worden seien; 1505 soll sich bereits ein Handel mit Bataten nach England entwickelt haben. Schiffe nach Amerika nahmen entweder in Spanien oder auf den Kanaren die »batate hispaniorum« an Bord. Salaman, der die Geschichte der Kartoffel eingehend erforscht hat, kann andererseits nachweisen, daß in den englischen Pflanzenbüchern von Nicolas Monardes (zwischen 1569 und 1571) und bei William Turner (1551 und 1562) weder die Kartoffel noch die Batate erwähnt wird.
Dieses Buch handelt vorwiegend von der Kartoffel. Deshalb ist es sicherlich hilfreich, am Anfang die Knolle zu beschreiben, zuzuordnen und ihre pflanzlichen Verwandten zu nennen. Die Kartoffel (Solanum tuberosum) ist eine Staude mit meist unterbrochenen Blättern; die Fiederblättchen sind abwechselnd groß und klein bis sehr klein mit einer eiförmig zugespitzten bis herzförmigen Form. Beim Betrachten der Kartoffel sieht man an einem Ende etwas vertieft einen kleinen Ansatz; es ist das Nabelende, entgegengesetzt liegt das Kronenende, um welche die Augen enger gedrängt angeordnet sind. Der Blütenstand besteht normalerweise aus zwei Wickeln; die Blüten tragen eine radförmig ausgebreitete fünfzählige Blumenkrone, die weiß, rosa, violett oder blau7) ist. Die Staubbeutel der fünf Staubblätter stehen kegelförmig um den Griffel herum; die Öffnung der Staubbeutel erfolgt durch Poren an der Spitze. Aus dem Kegel ragt oben der Griffel mit der kopfigen Narbe heraus. Der Fruchtknoten setzt sich aus zwei verwachsenen Fruchtblättern zusammen, die schräg in der Blüte stehen. Er entwickelt sich zu einer Beere, die auch im reifen Zustand grün bleibt. Die der vegetativen Vermehrung dienenden Knollen entstehen an unterirdischen Sprossen, den Stolonen, nicht an den Wurzeln. Die Vegetationsdauer ist stark sortenbezogen und beträgt zwischen neunzig und mehr als einhundertundfünfzig Tagen. Die »Augen« der Knollen sind eingesenkte Seitenknospen.
Die Kartoffel gehört zu den Nachtschattengewächse (Solanaceae), die wiederum gehören zur Familie der Röhrenblütler und umfassen rund 2300 Arten in 85 Gattungen, vorwiegend in den Tropen und Subtropen und in Amerika (mit fast 40 Gattungen). Für medizinische Zwecke werden aus der Nachtschatten-Familie Alraunwurzel, Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche und Tollkraut, für Nahrungs- und Genußzwecke Tabak, Kartoffel, Tomate und Auberginen genutzt. Darüberhinaus werden Arten für Zierzwecke gepflanzt.
Zur Kartoffel gehören acht Kulturarten und einhundertsechzig Wildpflanzen. Zu jeder Kultur-Pflanzenart gehören eine oder mehrere nah verwandte, korrespondierende Wildformen, die innerhalb oder außerhalb der Kulturpflanzenbestände vorkommen. »Unkraut«-formen gibt es auch von der Kartoffel. Zwischen den jeweiligen »Unkraut«-formen und den Kulturpflanzen besteht freie Kreuzbarkeit, da sie von gemeinsamen Vorfahren ausgehen. Die in Europa üblicherweise angebaute Kultur-Kartoffel gehört zur Art Solanum tuberosum subspecie tuberosum (aus Süd-Chile bzw. der Insel Chiloé) oder zur subspecie andigena (aus den peruanischen Anden) so die formelle Einordnung. Heinz Brücher weist nach, daß die ursprüngliche Kartoffel mitnichten von der Insel Chiloé, ja nicht einmal aus Chile, stammt. Diese These sei, so Brücher, von sowjetischen Wissenschaftlern in Umlauf gebracht worden, um den Nationalstolz der Chilenen zu nähren. Richtig sei vielmehr, daß die Kartoffel aus den peruanischen Anden stammt, Chile und die Insel Chiloé seien Zwischenstation für die andinische Kartoffel gewesen; die Insel Chiloé war letzte Station auf der Rückreise der Spanier nach Europa. Chile sei sogar mit nur einer Spezies (Solanum maglia mol.) von insgesamt 230 Wildkartoffelsorten von Nebraska bis Patagonien besonders arm an knollenbildenden Arten. Neben fehlender gentechnischer Übereinstimmung der chilenischen Kartoffel mit der heute verbreiteten Art weist Brücher außerdem daraufhin, daß schon Charles Darwin mit seinem Forschungsschiff »Beagle« (1832/37) in der angeblichen Kartoffelheimat keine ackerbauenden Einwohner vorfand. Auch die von den Huiliche abstammenden Chiloten der Pazifikküste weisen nur schwache Leistungen im Ackerbau auf und widmen sich vorwiegend dem Mollusken- und Seetangsammeln.
Taxonomische Einordnung der Kartoffel im Regnum Vegetabili Abteilung Diviso Samenpflanzen Spermatopyhta Unterabteilung Subdiviso Bedecktsamer Magnoliophytina Klasse Classis Zweikeimblätter Dicotyledoneae Unterklasse Subclassis Verwachsenkronblättrige Metachlamydeae Ordnung Ordo Röhrenblütler Solanales Unterordnung Subordo Nachtschatten-Gewächse Solanineae Familie Familia Solanaceae Gattung Genus Nachtschatten Solanum Untergattung Subgenus Phystemonum Sektion Sectio Tuberarium Art Species Kartoffel Solanum tuberosum esculutum Unterart Subspecies Solanum tuberosum andigena Varietät Varietas Solanum tuberosum clausii Die »solanum tuberosum andigenum« aus dem nördlichen Andengebiet ist meist rotschalig, mit weißem Fleisch; die Blüte ist dunkelblau oder rotviolett. Die »solanum tuberosum tuberosum« hat gelbes Fleisch; die Blüten sind hellviolett oder weiß. Diese Kartoffelsorte ist für den Anbau in Mitteleuropa besser geeignet, da ihre chilenische Heimat mehr den klimatischen Verhältnissen in Europa entspricht.
Die Kartoffel breitete sich nur langsam in Europa aus; asiatische und islamische Länder lehnten sie sogar weitgehend bis in unser Jahrhundert hineinreichend ab. Friedrich von Gagern beschreibt in »Das nackte Leben« ein Mädchen der Rif-Kabylen: »Adel ist alles, ... und dieser junge, innerlich reine Leib« hatte nie eine Kartoffel berührt.« Wie sollte sie auch, wenn die Kartoffel in Nordafrika unbekannt war. Auch für den Islam gilt, daß das Alte Testament die Kartoffel nicht erwähnt und sie deshalb ein »gottloses« Gemüse ist. Aber: Die islamische Geschichte ist ein gutes Beispiel, zu studieren, wie ein Kulturvolk herabsinkt, wenn die Kartoffel abgelehnt wird. In Westeuropa sinkt zum Ende des 20. Jahrhunderts der Kartoffelverbrauch dramatisch; ist eine Schlußfolgerung zulässig?
Auch der Mais wurde in Asien zunächst ablehnt. Der Mais (der dick macht ohne zu kräftigen) gelangte zwar bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach China. Der Anbau beschränkte sich jedoch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts auf wenige Gebiete. Wegen des plötzlichen Bevölkerungsanstiegs in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde es auch in China erforderlich, die Hügel- und Berglandschaften zu kultivieren und Kartoffeln anzubauen, die Mitte des 17. Jahrhunderts von portugiesischen Jesuiten nach China verbracht worden waren8). Der Jesuit Adam Schall von Bell (in China Dr.T'ang Jowang) und seine langnasigen Mitbrüder mochten Mitte des 17. Jahrhunderts nicht auf Kartoffeln verzichten, als sie für die Kaiser Shun-chih und K'ang-shi Mond- und Sonnenfinsternisse voraussagten und den chinesischen Kalender erneuern; wie in Europa ist die Kartoffel der Anlaß, die Zeitrechnung zu überarbeiten.
Als jedenfalls der Abenteurer und Journalist Peter Fleming mit seiner Kollegin Ella Maillart 1935 von Peking über Tschinghai und Sinkiang nach Kaschmir reisen, können sie in einem kleinen Ort namens Tangar in Kansu neben Tsamba auch
9) kaufen und ihrem leichten Gepäck beifügen; die dort von ihnen gefundenen Kartoffeln sind von den zaristischen Flüchtlingen aus den weiß-russischen Armeen von Annenkow und Koltschak und von – vielfach schwedischen – Missionaren (Stichwort: Sven Hedin) in diese Gebiete verbracht worden, aber auch von den Agenten der Sowjetunion in den 1920er Jahren, die sich gewaltsam in die internen Auseinandersetzungen von Dunganen und Chinesen einmischten. Die anderen amerikanischen Nahrungsmittel Mais, Erdnuß und Süßkartoffel gelangen über die traditionellen Handelswege von Südchina nach Korea und Japan10).
Toshio Teshigawara in einem klassischen Haiku:
»Der Bauer, pflanzend
Knollen in den Grund, spürt
nicht der Hunger Not.«War die Kartoffel in der prä-columbianischen Zeit auf die Andengebiete beschränkt, so erobert sie schließlich – über den Umweg Europa – auch den nordamerikanischen Kontinent.
Die neuen Pflanzen, das viele Gold, brachten Unruhe mit. Man hörte von neuen Pflanzen aus »Indien«, die an die Stelle von Weizen, Gerste und Hafer treten würden. Damit war der so einträgliche Getreidehandel bedroht.
Dazu paßt, daß Ulrich von Hutten mit »Nieder mit dem Pfeffer, dem Safran, die Seide« gegen die neuen Produkte aus Spanien und Italien und zugleich gegen die spanisch-italienische Kirche, Stellung bezieht. Aus dem Thesenanschlag des »kleinen Mönchleins« entwickelte sich der hundertjährige Krieg, der 1618 in den 30jährigen Krieg mündet, ein Krieg, in dem es um Absatzmärkte von Getreide und Kartoffeln und damit um Macht ging, nur nicht um die »Ehrfurcht vor der Göttlichkeit«, der religio, und den die Knollenbauer um den Preis der Abspaltung großer Teile Europas von der katholischen Kirche schließlich bestanden. Der 30jährige Krieg vernichtete auch die Reste des Weinbau im nördlichen Deutschland11), brachte aber andererseits das »Tabakrauchen« (»eine Pfeife Rauch trinken«)12); Deutschland blieb, unterm Strich, lasterhaft.
Die zur ersten Jahrtausendwende vorherrschende Warm-Temperatur in der nördlichen Hemisphäre ermöglichte Weinbau in Schottland und Viehzucht auf Grönland. Wein wurde zum ersten Mal von den Römern nach England gebracht, und die Christen taten alles ihnen Mögliche, um ihn zu behalten. Im Hochmittelalter, als der Handel über weite Entfernungen schwierig und unsicher war, legten die Engländer großflächige Weinfelder an. Doch ihr Wein schmeckte scheußlich. Peter von Blois, Schreiber am Hofe des englischen Heinrich II.:
«Ich habe gesehen, wie sogar dem hohen Adel derart trüber Wein vorgesetzt wurde, daß man die Augen schließen und die Zähne zusammenbeißen mußte, wenn man mit verzogenem Mund und tiefem Ekel dieses Dreckszeug, statt es zu trinken, in sich hineintröpfeln ließ.«
Nun werden die Kämpfe um die Bretagne verständlich, sie gingen um den Zugang zu den Weinfeldern Frankreichs, um den »Kir Royal«. Vor diesem Hintergrund ist die Johanna von Orléans zu begreifen, die den guten Roten der Franzosen vor den Engländern bewahren wollte.
Die ab 1300 einsetzende »Abkühlung« (bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts) um (nur) etwa ein Grad Celsius (durchschnittlich) führte zu einer erneuten »Völkerwanderung«, ausgelöst von der westwärts ziehenden »Goldenen Horde«, dem »Khanat Kiptschak«, unter Dschingis Khan, Batu Khan und später Timur-Leng (Tamerlan), der sich Samarkand ein blau gekacheltes Grabmal errichten ließ13). Nur weil der Khan starb, die Armee zur Wahl des Nachfolgers zurück in die heimatlichen Jurten mußte und deshalb in der Mitte des 15. Jahrhunderts alles wieder aufgab, was erobert worden war, kam Europa damals um den Einfluß durch die chinesischen Kultur.
Ein weiterer Faktor für den Siegeszug der Kartoffel ab 1600 war diese auch heute noch nicht erklärbare deutliche Klimaveränderung in Europa und Asien. Bis weit nach 1700 herrschte das kälteste Regime seit dem Ende der letzten großen Eiszeit vor zehntausend Jahren. Die Abkühlung warf Europa in ein dunkles Zeitalter, nicht nur kulturell: Die Winter waren extrem kalt, die Sommer waren verregnet. Das Getreide reifte nicht mehr, und am Roggen bildeten sich Mutterkornpilze (ein hauptsächlich an Roggen schmarotzender Schlauchpilz), die zu Erkrankungen der Gliedmaßen führten14), die Wölfe drangen in Dörfer ein und fielen die Bewohner an. England, damals schon unter einer ewigen Wolkendecke, verlegte sich auf Schafzucht. Die Wollproduktion wiederum führte zur Entstehung der Textilindustrie, die ihre Produkte exportieren mußte und den »Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus« begründete.
Jede Mißernte führt zu Hungersnöten; die durchschnittliche Lebenserwartung – die ohnehin mit etwa dreißig Jahren nicht hoch war, sank um etwa zehn Jahre. Karl V. von Frankreich galt bei seinem Ableben im Alter von zweiundvierzig15) Jahren als »weiser alter Mann«. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die Lebenserwartung nicht wesentlich gestiegen16): In Rußland betrug sie 21,3 Jahre, Preußen 29,6, Frankreich 32,2, Schweiz 34,5, Belgien 36,5 und England 38,5 Jahre.
Man nimmt an, daß erst auf diesen kaltfeuchten Böden die Pest – der »schwarze Tod« – gedeihen konnte. Es ist bis heute rätselhaft, unter welchen Umständen die Pest von Europa Besitz ergriff. Unter den Arabern erreichte die angeblich aus China kommende Pest nicht jene furchtbaren Ausmaße, die unter den europäischen Christen zu beobachten war; das mag neben den klimatischen Verhältnissen auch mit der größeren Hygiene der Araber zu tun haben. Andererseits akzeptierte man die Pest als Allahs Wille und versuchte nicht, ihr zu entfliehen oder sie mit meist wirkungslosen Heilmitteln zu bekämpfen. Wer an der Pest starb, kam direkt ins Paradies.
Zeitgenossen machten die Konstellation der Gestirne, Kometen, die allgemeine Sündhaftigkeit, die Unkeuschheit der Priester und, natürlich, die Juden verantwortlich, die zu Anfang wegen ihrer größeren Hygiene und besserer Ärzte von dem »großen Sterben« verschont worden waren17). Ärzte und Theologen waren der Ansicht, daß man die Seuche bekämpfe müsse, obwohl ihr Ursprung zweifelsfrei in Gottes Willen zu suchen sei – aber einmal auf Erden entlassen, folge die Pest den Gesetzen der Natur.
Der Tiefpunkt dieser »kleinen Eiszeit« lag in der Mitte des 17. Jahrhunderts, wobei die Jahre von 1580 bis 1730 überdurchschnittlich kalt waren18). Die Unbilden der Witterung wirkten sich durch Mißernten und Hungersnöten vor allem dort aus, wo die Ertragslage durch minderwertige Böden ohnehin schon ungünstig war, wo Subsistenzwirtschaft herrschte oder die Krisen durch Getreidespekulationen noch verschärft wurden. Die Kartoffel war die Antwort auf das am Halm faulendes Getreide; sie war an kältere Temperaturen und an ein feuchteres Klima besser angepaßt als Getreide, das sich fast zehntausend Jahre lang dem vorherigen milderen Klima der nördlichen Hemisphäre angepaßt hatte. Im 17. Jahrhundert verneunfachten sich die Kornpreise als Folge der wiederholten Mißernten wegen der Klimaverschlechterung. Die Mißernten führten dazu, daß die Menschen das unreife Korn aßen oder gar grünes Gras »wie das Vieh«. Aus Hessen wird 1635 berichtet:
«Man verschlingt die ungenießbaren Dinge wie Laub, Gras oder Leder, um den Hunger zu stillen. Eine Rattenmaus19) bezahlt man mit vier Gulden, soviel hatte 1618 noch eine fette Sau gekostet.«
Gefürchtet waren überall die »grünen Jahre«, Jahre, in denen das Getreide nicht ausreifte, weil der Sommer wieder einmal nicht auf die erforderliche Temperatur kam oder die Regenmenge zu viel oder zu wenig war.
Sämtliche Länder Europas befinden sich, nicht unbedingt immer zeitgleich, in einer ähnlichen Situation. Eine Folge dieser Hungerperioden war die Zusammenballung dieser Menschen zu riesigen Gruppen, die in die Städte zogen und besser gestellte Bürger in Angst und Schrecken versetzten. Aus Augsburg wird über die Hungersnot 1570/1571 berichtet, daß man sich mit Rüben, Nesseln, Kraut und Gras (wovon selbst den Schweinen schlecht wurde) behalf; auch hätte man Kälber, die vor der Zeit geboren, essen müssen. »Ausgejagte« Knechte und Mägde zogen durchs Land und bestürmten die Städte. Festzustellen ist in diesen Jahren, daß in Listen über gelieferte Waren oder Preisen von Nahrungsmitteln immer wieder Roggen, Erbsen, Milch und Butter, Eier, Schmalz und Rindfleisch erwähnt werden – aber keine Erdäpfel. Dies läßt den Schluß zu, daß Kartoffeln in jenen Jahren nicht angebaut, zumindest aber nicht gehandelt wurden.
Für die Versorgung einer Stadt mit etwa dreitausend Einwohnern war – zusätzlich zu der innerhalb der Stadtmauern betriebenen Landwirtschaft – eine Fläche von 8,5 ha erforderlich. Die »Stadtbewohner« waren zugleich Bauern, die nicht nur zur Erntezeit stante pene aufs Feld zogen, sondern auch in normalen Zeiten ihre Rüben vor dem Ort buddelten.
Der Hunger führt zu Unterernährung, und diese begünstigt – neben den allgemein schlechten hygienischen Verhältnissen – die Ausbreitung von Pest, Seuchen, Typhus, Pocken, Keuchhusten usw. usw. Alles, was die apokalyptischen Reiter enthüllten.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommen die schon seit langem schwelenden sozialen Unruhen zum offenen Ausbruch. Das Rittertum verliert mit den aufkommenden Söldnerheeren seine Macht und Bedeutung. Die Einnahmen des kleinen Landadels gehen zurück und veranlassen den Adel, von den Bauern höhere Abgaben zu fordern; solange die Landwirtschaft nur auf die Versorgung um den Kirchturm herum ausgerichtet war und nicht mehr angebaut wurde, als das was unmittelbar verbraucht wurde, hält sich zwischen Grundherren und »Hörigen« ein Gleichgewicht der Kräfte und ein »maßvoller« Frondienst.
Die sich in diesem Jahrhundert durchsetzende Wirtschaftgesinnung auf Erwerb und Gewinn durch den Verkauf von Landwirtschaftsprodukten in sich nicht selbst versorgenden Dorfschaften durchbricht die traditionelle Wechselbeziehung von Adel und Bauern. Die Blütezeit der Handelshäuser (Fugger, Welser, Hochstetter) geht zu Ende, zumal es dem deutschen Adel gelingt, in die Handelsmonopole der Seestädte im Ostseeraum einzudringen und die Privilegien der Städte zu brechen. Die Grundherren fangen an, Getreide anbauen zu lassen und dessen Export nach West- und Südeuropa in eigene Hände zu nehmen, zumindest zu kontrollieren.
In England lösen ab dem 15. Jahrhundert die Feudalherren ihre Gefolgschaft auf, da sie nicht mehr ernährbar ist (in Asien wird aus gleichen Gründen die Sklavenhaltung in dieser Phase deutlich eingeschränkt). Englisches Gemeindeland wird eingezäunt, kleinere landwirtschaftliche Betriebe vernichtet. Werden die Bauern auf dem Kontinent unterdrückt, so werden sie in England »freigesetzt« und vertrieben – ein Prozeß, der sich über drei Jahrhunderte erstreckt.
Der 30jährige Krieg, vorgeblich ein Krieg um die richtige Interpretation des Papsttums20), war Folge der Mißernten und Ursache und des damit einhergehenden Hungers in ganz Europa. Krieg war allgegenwärtig; überall in Europa darben und starben, stürzten die Menschen. Pest und Epidemien kehrten regelmäßig durch die Lande. Hunger war üblich. Nach dem 30jährigen Krieg sind in Deutschland allein in der Zeit bis 1807 nachweislich sechzehn Hungerperioden zu zählen, die Jahre 1739 bis 1741 (auf dem Barnim in Preußen lag bis in den Mai hinein Schnee und im Juni war noch kein Gras auf der Weide) und 1770 bis 1772 waren sogar Hungerkatastrophen21). Aus Wesel wird berichtet, daß in den Monaten Februar bis Juli 1770 Dauerregen, dann Kälteeinbrüche, plötzliche Trockenheit und dann wieder Überschwemmungen herrschten. Rund jedes vierte Jahr ist ein Hungerjahr in Deutschland22)fussnote4.
Für die Verbreitung der Kartoffel in Europa hat es zwei Wege gegeben: Zum einen der Weg von England (Raleigh u.a.) nach Holland, Burgund, Deutschland und Italien und zum anderen von Spanien gen Italien, in die Schweiz, nach Burgund und anschließend nach Norden, nach Deutschland (Sevilla, Genua, Basel, ins Vogtland und ins Erzgebirge, in die Kurpfalz, nach Böhmen). Der Weg von Nord war der Weg der Süßkartoffel aus Virginia (später holländische Kartoffel oder Zuckerkartoffel genannt), der spanische Weg führte zur Verbreitung der aus Peru und aus Nord-Chile stammenden Knollenfrucht, die heute gemeinhin als »Kartoffel« bezeichnet wird. Wegbereiter waren zum einen die Fürsten, die die Kartoffel als Zierpflanze weiterreichten, zum zweiten Ärzte und Botaniker, die die Kartoffel als Heilpflanze untersuchten und an Kollegen weitergaben und zum dritten Söldner23), die die Kartoffel irgendwo kennenlernten und aßen, mitnahmen oder »Saatgut« kauften und dann selbst anbauten. Wie mit einer »invisible hand« verbreitete sich die Kartoffel auf den europäischen Bauernmärkten – ohne Brüsseler Marktinterventionshilfsgelder.
Die Geschichte der Kartoffel in Europa ist verbunden mit immer wiederkehrenden Hungersnöten, aber auch – wie durch andere südamerikanische Pflanzen – mit einer Umstellung der Küche und der Ernährungsgewohnheiten. Der bayerische Agrarhistoriker Heinz Haushofer schreibt:
«Die Kartoffel kann, zusammen mit Kaffee und Branntwein, als prägende Innovation, ja sogar als kulturelle Leitnorm beim Entstehen unseres modernen Speisen- und Mahlzeitensystems im späten 18. Jahrhundert betrachtet werden. Die Rezeption der Kartoffel bedeutet nicht nur eine übliche Bereicherung des Speisezettels, sondern weit darüber hinausreichend eine strukturelle Veränderung des Nahrungsverhaltens mit tiefgreifenden Konsequenzen in den damit zusammenhängenden Daseinsbereichen.«
Eugen von Rodiczky unter Berücksichtigung der dreihundertjährigen Geschichte der Knolle in Europa:
»Alle Bemühungen ihrer Verehrer und drakonische Maßnahmen ihrer Förderer schienen unwirksam zu sein, ihr allseitig Anerkennung zu verschaffen, bis es zweien ihrer Bundesgenossen, dem Elend und der Mode, gelang, sie einerseits unter den Großen salonfähig zu machen, andererseits in die Hütten der Noth, als letzten Freund und Erhalter, einzuführen.«
Blitzableiter24), Kuhpockenimpfung und Kartoffelanbau zählen zu den großen Segnungen des Zeitalters der Aufklärung. Auf die ablehnende Haltung in Sachen Kartoffelbau wird noch hingewiesen; gegen die Kuhpockenimpfung sprach sich sogar Imanuel Kant aus – wer sich freiwillig impfen lasse, bringe sich in Todesgefahr. Außerdem wurde behauptet, daß durch die Beseitigung der Pocken Scharlach und Masern und andere Übel heftiger werden würden25).
Würde man die europäische Geschichte einteilen nach der Art des Hauptnahrungsmittels26), so wäre die Zeit bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts als eine Zeit des Fladen, des Mus, des Breis und des Sterz aus Hirse, Gerste, Roggen, Hafer und anderem Getreide zu bezeichnen, am Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt die Kartoffelzeit und etwa ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zeit des Fleisches, die sich jetzt dem Ende zuneigt, denn Gülle und Methan, Rinderwahnsinn, Schweinepest und Salmonellen-Eier und der ungeheure, unverhältnismäßige Aufwand zur Erzeugung eines Stück Fleisches in Relation zum hierfür benötigten Getreide zwingen zu neuen Nahrungsgewohnheiten. Es wird wohl wieder eine mehr vegetarische Zeit werden, denn auch die Änderungen des bundesdeutschen Gesundheitswesens in den 1990er Jahren werden viele Menschen wieder zwingen, sich zu entscheiden zwischen Brei oder einem Zahnersatz27). Die schmalen Einkünfte für viele Menschen werden zu einem Gebiß führten, wie es sonst nur noch die Ferengi aufweisen.
Der Brei, auch Mus oder Brod genannt, war das Hauptnahrungsmittel, mehr noch als heute Kartoffeln und Brot gemeinsam. Brei war eine hochbegehrte Speise, das Volk verband mit ihm Sattsein und Wohlbefinden, und zum »Schlaraffenland« mußte man sich durch eine Mauer aus Brei essen. Der Klein- und Mittelbauer und die Landarmen aßen neben dem Brei oft Pflanzen, die wild wuchsen und die die Kinder sammeln konnten: Wurzelgemüse wie Möhren und Steckrüben28), Wildpflanzen wie Brennessel, Hederich, Ackersenf und Sauerampfer, dazu Obst und Beeren. Auf den Breistandard fiel die Bevölkerung bei jeder Hungersnot, bei jeder Getreidemißernte zurück. Und Hering aus der Nordsee spielte für die Ernährung eine große Rolle. Die Masse der Bauern, Häusler und Büdner lebte ärmlich, aber sie wurden vom Herrn ausreichend und ordentlich ernährt »genau wie die Ochsen«, damit sie nicht abwanderten. Erst in der Renaissance wird Brei und Eintopf – bei Adel, Klerus und besseren Bürgern – ergänzt durch raffiniertere und gewürzte Speisen.
Mais- und Kartoffel-Anbau in Europa führte zwangsläufig auch zu neuen Anbautechniken und – nicht zu unterschätzen – zu neuen technologischen Verfahren und Erfindungen. Beispielhaft sei die Uhrmacherei (Pendel 1675) und die Metallurgie (Agricola 1556) genannt; neue Techniken erfordern neue Ausbildungsformen: in Paris wird 1743 die »École des Ponts et Chaussées« und 1783 die »École des Mines« gegründet. Braudel weist daraufhin, daß 1598 neunzig verschiedene Gewerbe bestünden, Mitte des 18. Jahrhunderts aber zweihundertfünfzig und im London des Jahres 1826 sind es 846 Berufe.
Ohne Columbus kein Rauchverbot in New Yorker Büros und keine kokainbeeinflußte Psychoanalyse des Dr. Sigmund Freud, kein ungesundes Zusammenspiel von Pökelsalz (das 1385 von einem zeeländischen Fischer erfunden wird) mit Nitraten auf einem gebräunten »Toast Hawaii«29). Ohne Columbus keine Läuse im Weinberg (auch aus Amerika), keine Dyspepsie nach dem »Genuß« holländischer Tomaten. Die Kartoffel hat darüberhinaus dazu beigetragen, daß die Weltbevölkerung – insbesondere die Europäer – von Getreide unabhängiger wurde und sich vom Hunger befreien konnte.
Die ersten Europäer, die mit der Kartoffel Bekanntschaft machten, waren die Conquistadores des ehemalige Schweinehirten und Müllerburschen Francisco Pizarros, der mit einhundertachtzig Mann, siebenundzwanzig Kanonen und zwei Pferden in Tumbes (im heutigen Golf von Guayaquil) an der peruanischen Küste an Land ging und in den Jahren 1531 bis 1536 das Inka-Reich von Huascar und Atahualpa eroberte. 1533 erreicht er, getrieben von unersättlicher Gier nach »El Dorado«, dem vergoldeten König, Cuzco im Hochland von Peru, aber nach dem Goldland wird noch heute gesucht.
Pedro Martyr de Anghiera schreibt in seinem Buch »De rebus Oceanicis et orbe«, 1533 in Basel gedruckt, daß die Bewohner von Darien (im heutigen Kolumbien) Wurzeln essen, die sie Batatas nennen:
»effodiunt etiam e tellure suapte nature nascientes radices, quas ut vidi indigenae batatas appellant«
Zwei Jahre nach Pizarro (1535) dringt Diego de Almagro von Peru nach Chile vor und trifft dort ausgedehnte Kartoffelkulturen.
Gonzalo Jiménez de Quesada beginnt 1536 auf dem Rio Magdalena die Suche nach dem »El Dorado«. Sein Ziel ist die Hauptstadt der Muyscas, die neben den Sinú und Tairona berühmte Hersteller von Gold- und Edelsteinschmuck waren. Im Frühjahr 1537 soll Jiménez de Quesada im Muysca-Dorf Sorocotá, einem Ort in der Nähe der späteren spanischen Ortschaft Vélez, angebaut vorgefunden haben. Bei den Plünderungen entdecken sie in den verlassenen Häusern getrocknete Kartoffeln, die sie für eine Trüffelart halten. Hier wird ihm die »krautige Dauerpflanze« von den Einwohnern vorgelegt; es war schon ein erheblicher Unterschied zu den Perlen, die sich dieser Räuber erwartet hatte. Aber es spielte keine große Rolle: Alles, was ein Wert hatte oder haben könnte, wurde mitgenommen. Jiménez de Quesada, »Rechtsanwalt« und berufsmäßiger Konquistador, soll der Entdecker der andinischen Kartoffel sein, als er nach Bogotá vordrang. Zwar verloren bei diesem Raubzug zwei Drittel seiner Leute das Leben, aber die Überlebenden gewannen eine runde Tonne Gold und eine anständige Menge Smaragde.
Nach Alexander von Humboldt30) hieß dieser Ort ursprünglich »Bacata«, d.h. »Äußerstes der bebauten Felder«; die Behauptung, Gonzalo Jiménez de Quesada sei der Gründer von Bogotá scheint jedenfalls so nicht richtig zu sein; denn Bacata war bis zur Eroberung durch die Spanier die Hauptstadt der Chibcha. Von Humboldt startete 1801 eine Expedition von Cartagena aus auf dem Rio Magdalena bis nach Honda, um gemeinsam mit dem Franzosen Aimé Bonpland das Hochland von Quito bis Kolumbien zu erforschen31). Über die Strecke von Facatativá nach Fontibión, dem letzten Ort vor Bogotá, schreibt er in seinem Tagebuch:
»Der Weg geht immer weiter durch die baumlose Ebene voll Kartoffeln, Weizen und Hafer.«
Der Spanier Juan de Castellanos schreibt (in Versform) in der »Historia del Nuevo Reino de Granada«, daß er in diesem peruanischen Dorf »Mais, Bohnen und Trüffeln« vorfand:
»Sie haben mehlige Wurzeln, sind von gutem Geschmack, ein für die Indianer sehr angenehmes Gut und ein köstliches Gericht, sogar für Spanier«.
Pedro de Cieza de León, der 1534 als Vierzehnjähriger in die Neue Welt kam und 1538 als Soldat in der Armee von Sébastian de Belacazar an der Raub-Expedition im Distrikt Popoyán (im heutigen Ekuador) teilnahm und die Kartoffel später »papas peruanorum« nannte, brachte die Knolle (unstrittig in der Geschichte der Kartoffel in Europa) um die Mitte des 16. Jahrhundert nach Spanien und beschrieb die »Erdnüsse«, die er im oberen Caucatal im heutigen Kolumbien, auf dem Hochland von Callao in Peru und um Quito in Ekuador gefunden hatte, in einem offiziellen Bericht (»Cronica del Peru«), der 1550 oder 1553 in Sevilla gedruckt wurde:
»In einem Ort nahe Quito haben die Einwohner, neben Mais, zwei weitere Pflanzen, welche ihnen ihren Lebensunterhalt ermöglichen: Die papas, eine Wurzel ähnlich den Trüffeln. Sie trocknen sie an der Sonne und bewahren sie von einer Ernte zur anderen auf. Sie heißen dann chuno.«
Cieza de León beschreibt die von ihm vorgefundenen Kartoffeln als eine
»Art Erdnüsse, die durch Kochen weich werden wie eine Kastanie und eine Haut wie Trüffeln haben.«
1552 veröffentlicht Francisco Lopez de Gómara seine »Allgemeine Geschichte Indiens« und schreibt über das Gebiet um Calla in Peru:
»Die Menschen leben seit Hunderten von Jahren in diesen Tälern und essen Mais und Wurzeln, ähnlich den Trüffeln, die sie papas nennen.«
Ein anderer Plünderer war Nikolaus Federmann (Nicolas Federman) aus Ulm, der im Auftrag des Augsburger Handelshauses Welser dessen »Klein-Venedig« (Venezuela) als Statthalter beherrschte und ab 1536 (im Auftrag der Welser) kolonisierte mit spanischen Siedlern und deutschen Bergleuten32). Federmann beschrieb in seinem 1557 in Hagenue gedruckten Bericht »Indianische Historia« die Nahrungsmittel der Einwohner und erwähnt eine Knollenfrucht, bei der es sich wahrscheinlich um die batate gehandelt hat. Auch der Schatzmeister von Peru, Agustin de Zarate, berichtet 1544 über den Anbau der Kartoffeln und bezeichnet sie als eine wichtige und eßbare Frucht.
1555 gelangen nachweisbar die ersten rotschaligen Kartoffeln nach Spanien. In einer anderer Quelle steht, daß dies erst 1558 durch einen Seemann erfolgt sein soll, der die Kartoffeln dann nach England brachte; dort wurden sie – wie in ihrer virginischen Heimat »Ratsta« genannt und erst später (durch Raleigh) in »Potato« umgetauft. Beide Daten können richtig sein: Es kann sich um die andinische Knolle, aber auch um die Süßkartoffeln gehandelt haben33).
Die niedrigen Getreidepreise und die gröbliche Vernachlässigung des Ackerbaus auf der iberischen Halbinsel schädigen in den 1550er Jahren den herkömmlichen – sowieso schon verringerten – Getreideanbau, und Wein-, Öl- und Seidenkulturen und Schafzucht mit wandernden Herden dehnen sich noch stärker aus. Der Raubbau an den Wäldern war so schlimm, daß bereits Anfang des 16. Jahrhunderts Holz aus Nordeuropa importiert werden mußte. Die Mißernten sind durch die kleine Eiszeit34) wie durch diese rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen begründet. Die Erosion durch Rodung und die Auslaugung der oberen Bodenschichten und die Weidewirtschaft vernichtete wertvollen Ackerboden, so daß Brache und Düngung keinen Ausgleich für diesen Umgang mit der Natur schufen.
Der allgemeine Raubbau an der Natur wirkte sich auf die Kartoffel aus, die auch aus diesem Grund als Alternative zum Getreideanbau betrachtet und deshalb angepflanzt wurde.
Erste Kartoffelfelder wurden schon vor 1570 in Spanien angelegt. 1586 schreibt Diego Davilla Bricegno, der mehr als fünfundvierzig Jahre in Peru verbrachte, einen Bericht (»Descripción y Relación de la Provincia de los Yauyos«) und stellt fest,
«wenn die Kartoffel in Spanien ebenso wie hier angebaut werden würde, könnte sie eine bedeutende Stütze in den Jahren der Hungersnot sein.«
Manche Kartoffelforscher (die sonst kein anderes Forschungsgebiet haben) streiten sich, ob Bricegno die Betonung auf das »wenn« oder auf »ebenso wie hier« liegt. Bei »wenn« würde es bedeuten, die Kartoffel in Spanien überhaupt anzubauen, bei »ebenso wie hier« geht es nur um die Menge der schon angebauten Kartoffeln. Da aber die Kartoffel zweifelsfrei bereits um diese Zeit in Spanien angebaut wurde, kann es nur um eine Mengenbestimmung gehen.
Das Saatgut für diese ersten Anpflanzungen stammte zumeist aus der Region um Lima herum.
Verbürgt ist, daß die Kartoffel in Europa 1573 von Mönchen im »Hospital de la Sangre« in Sevilla, dem »prächtigen Theater der Welt« (Lope de Vega), am Schnittpunkt der Estremadura und dem östlichen Andalusien, angebaut wurde und in andere Orte verschickt wurde, zum Beispiel in die spanisch-habsburgischen Niederlande. 1576 gehörte die Kartoffel bereits zur normalen Hausmannskost im Kloster. Salaman schlußfolgert aus diesen beiden Daten, daß die Kartoffel demnach spätestens 1569 aus Amerika nach Spanien kam und folglich 1570 erstmals in der Region Sevilla angebaut wurde. Während der Prior des »Hospital de la Sangre« noch im Frühjahr 1584 die Kartoffeln nur pfundweise kaufte (zum Dessert, als Delikatesse oder als Aphrodisiakum für die Brüder?), erwarb er sie im Herbst desselben Jahres schon in einer Menge von fünfundzwanzig Pfund, was darauf hinweist, daß die Kartoffel in Spanien wuchs und geerntet wurde. Aber es kann auch darauf verweisen, daß die Mönche aus dem »Indien-Handel« soviel Gold abbekamen, daß sie sich die Kartoffel häufiger leisten konnten. Die Quittungen des »Hospital de la Sangre« in Sevilla werden gemeinhin als frühester Beleg für den Anbau der Kartoffel in Europa angesehen.
Es gibt möglicherweise einen noch früheren Beleg: 1517 zeichnet Albrecht Dürer in Nürnberg die »Marktbauern«, die einen Korb mit Früchten bei sich haben. Man sehe sich den Inhalt dieses Korbes genau an. Das sind keine Eier, keine Äpfel, keine Birnen, keine Pflaumen oder Rüben. Alles zu »unrund«, zu ungleichmäßig, zu groß oder zu klein – das können nur Kartoffeln sein. Nicht zulässig diese Schlußfolgerung? Zur Erinnerung: Dürer war 1490 bis 1494 nach Colmar, Straßburg und Basel gewandert, 1495 in Italien, 1505–1506 ein weiteres Mal; da ist er von der Kaufmannsstadt Venedig nach dem mit Spanien in enger Verbindung stehenden Bologna gegangen, um dort die »heimlichen Perspektiven« zu erlernen. Und ist es nicht bemerkenswert, daß im Raum Erlangen–Nürnberg die Bezeichnung »Patake«, abgeleitet von »Batate« – vor der heutigen Verwendung des Ausdrucks Erdapfel – benutzt wurde: das spricht für eine frühe Kenntnis der Kartoffel im Nürnberger Raum35).
Die »Neue Welt« war das »Jahrhundert«-Ereignis, die Schätze aus »Indien« wurden durch ganz Europa gereicht – da hat ein wißbegieriger, auf Wanderschaft sich befindender Künstler wie Dürer doch davon erfahren, das sieht man sich doch an – gerade als Künstler, der lernen will –, da versucht man doch Impulse für die eigene Arbeit zu erhalten!36) Die Marktbauern sind zwar in Nürnberg gezeichnet worden, aber kann es sich nicht um eine Adaption, um eine Anpassung an den fränkischen Geschmack handeln?!
Und noch ein Punkt: Martin Luther37). Beginnt seine Bibelübersetzung 1521, Mitte Februar 1522 war die erste Fassung der Pentateuch-Übersetzung abgeschlossen, etwa Mitte 1523 erfolgt der Druck in Wittenberg. Martin Luther, der wegen einer besseren Verständlichkeit in einer einfachen volkstümlichen Ausdrucksweise und mit allgemein bekannten bildhaften Begriffen die Bibel aus dem Hebräischen übersetzte, verzichtet darauf, in Mose 1, 30. Kapitel, Vers 14 bis 16, den Begriff Dudaim in die deutsche Sprache zu übertragen und vermerkt als Glosse:
»Frage du selbs was Dudaim sind. Es sollen Lilien/Es sollen Beer sein/vnd niemand weis/was es sein sollen. Es heissens etliche Jüden Kirschen/die in der Weitzenernd reiff sind etc.«
Jetzt kommt sein Zeitgenosse und anfängliche Mitstreiter wider die römische Kirche Huldrych Zwingli ins Spiel: Die Züricher Bibelübersetzung (auf ihn zurückzuführen) und später Martin Buber übersetzen dudaim mit »Liebesäpfel«. In der »Biblia Hebraica Stuttgartia« steht geschrieben du(o)daim = Liebesäpfel; übersetzt werden diese Liebesäpfel in der deutschen Einheitsübersetzung mit »Alraune«. In der Bibel der »Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft« von 1905 steht an dieser Stelle das hebräische du(o)daim, während in der Ausgabe von 1931 »Liebesapfel« steht. In der »Biblia Hebraica« wird zusätzlich darauf verwiesen, daß auch im Hohelied 7. Kapitel, Vers 12, das hebräische »du(o)daim« verwendet wird, was in der Luther-Ausgabe von 1931 mit »Liebesapfel«, in der Ausgabe von 1905 mit »Granatäpfel« übersetzt wird. Liebesäpfel, Granatäpfel, Alraune38) oder doch die Tomate?
Das kann bedeuten: Zwingli könnte die aus Amerika gekommene Tomate gekannt haben, und dieser »Liebesapfel« müßte auch dem »einfachen Volk« in der Züricher Umgebung bekannt gewesen sein39). Daran schließt sich zwangsläufig die Frage an: War die Kartoffel zu diesem Zeitpunkt in der Züricher Gegend wohlbekannt, gar angebaut worden? Hat Luther mit der Nicht-Übersetzung von dudaim ebend nicht die Tomate bezeichnen wollen (weil im alten Israel nicht bekannt und nur verwirrend für das Eisenacher Volk)? Diese historische Möglichkeit führt zu Weiterungen. Denn immerhin: Der Mecklenburger Colerus erwähnt in seinem Hausbuch aus dem Jahr 1602 die Kartoffel. Und ein Blick auf die Landkarte zeigt, daß der Weg von dem »internationalen« Handelsort Nürnberg nach Norden, nach Leipzig an Eisenach – über die alte Via Imperii – vorbeiführen kann. Wenn Dürer die Kartoffel kannte und zeichnete (und wegen des Bilderreizes Bekanntes mit weniger Bekanntem zusammenführte), dann ist es nicht ausgeschlossen, daß auch Luther von den Kartoffeln gehört hatte, von ihrer Bedeutung für die »ehelichen wercke« angetan war. Nur nicht Kartoffeln, Tomaten und Liebesäpfel in der »Biblia« (begnadet mit Kurfürstlicher zu Sachsen Freiheit) durcheinanderbringen – nicht die klare, reine, eindeutige Sprache verwirren. Luther war verständlich, begrifflich, begreifbar für die Bauern und Bürger. Da mußte Luther »sein« Testament nicht von anderen Dolmetschern »klügeln« lassen, da bestand Luther durch ein gutes Werk, da konnte Luther auf eine Rechtfertigung verzichten. Er weicht ja auch an anderen Stellen von der Vorlage ab. Einer Übersetzung des dudaim mit »Alraune« hätten die Bürger in Wittenberg nicht viel abgewinnen können, deshalb auch die bis 1526 (im süddeutschen Raum) beigegebenen Wörterverzeichnisse zum Neuen Testament, als Lesehilfe beigebunden.
Aber es kamen auch – im Auftrage der »Aller-Katholischen Majestäten« (Papst Alexander VI. verlieh diesen Titel 1597) König Hernando II. und Königin Isabel – unbekannte Tiere und unbekannte Pflanzen. Eleonore Schmitt nennt neben der Kartoffel: Paprika (Chili, nicht aus Ungarn, auch »penis pepper« genannt) und Peperoni. Gartenbohne, Mais (Pop-corn ist eine fünftausend Jahre alte Erfindung der amerikanischen Ur-Einwohner), eine neue Kürbisart, Kapuzinerkresse, Wildreis, Maniok, Ananas (aus Hawaii? nein), Avocado, Kürbis, Vanille40), Tabak («Herba Reginae«), Erdbeere (die kleinere Wald-Erdbeere gab es schon in Europa41)), Feigenkaktus, Sonnenblume, Erdnuß (nicht aus Plains in Georgia), Kakao, Cashew, Chinin und Papaya stammen wie die Truthenne am »Thanks-Giving-Day« ebenfalls aus Südamerika. Einige der Neophyten – so nennen Botaniker Pflanzen, die erst nach der dem Beginn der Neuzeit nach Europa eingeführt wurden – neigen zu starker Ausbreitung. Drei Fünftel aller heute in der Welt angebauten Feldfrüchte sind den Ureinwohnern Amerikas zu verdanken. Was fingen italienische Köche an ohne Broccoli, Tomaten42) (die über Mexiko zuerst nach Italien kamen) und Zucchini? Wie schmeckt Cappuccini ohne den von Cortez mitgebrachten Kakao43)? Die Baumwollfelder und die Kultivierung der Kartoffel führen zur ersten industriellen Revolution und – später – zum gesellschaftlichen Umsturz. Auch das deutsche Wohnzimmer wird von der Entdeckung Amerikas beeinflußt: Weihnachtsstern und Amaryllis, Anthurie und Dieffenbachie, Fuchsie und Gloxinie, Passionsblume und Petunie, Pantoffelblume und Schönranke, Kapuzinerkresse, Dahlien (hat von Humboldt mitgebracht) und Zinnien, Goldruten und Sonnenhut und mehr.
Ohne amerikanischen Indigo bzw. Koschenille wäre der Alltag der vorchemischen Gesellschaft der Alten Welt farblos gewesen44). Die in Südamerika gezüchteten Meerschweinchen sind nicht nur ein gefährliches Spielzeug für Kinder (Meningitis), sondern waren (und sind) eine Delikatesse, die in Europa leider nicht mehr geschätzt wird. Umgekehrt kamen in die Neue Welt Kaffee, Reis, Weizen und Zuckerrohr. Amerikas Küstengewässer wurden darüber hinaus zu Fischfanggebieten der Europäer; Dorsch und Waltran waren die hauptsächlichsten Handelsgüter, die nach Europa kamen. Zeitweilig sollen bis zu zehntausend Seeleute und etwa gleichviel Hafenarbeiter durch den Fischfang vor Neufundland, Neu-England und dem Sankt-Lorenz-Strom beschäftigt gewesen sein. Schon damals wurde Raubbau getrieben.
Neben den ungünstigeren klimatischen Bedingungen, behinderte dieser erraubte Reichtum einen feldmäßigen Anbau der neuen Knollenpflanze in Spanien bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Unteilbarkeit des Landbesitzes bzw. das Verbot der Realteilung (durch die Gesetze von Toro, 1505) verfestigte die klerikal-aristokratische Struktur und förderte gleichzeitig eine vermehrte Viehzucht (Schafe) und die Produktion marktgängiger Produkte wie Oliven und Wein; die mesta, die Vereinigung der Viehzüchter, war mit ihrem starken Einfluß mehr an einem offenen Land ohne Einfriedigenden gegen die Schafe interessiert als an der Umwandlung von Weideland in Ackerland. Fehlende Anbauflächen für Nahrungsmittel, die Vertreibung der etwa dreihunderttausend Morusken (zumeist Bauern), Mißernten, die Pest, Auswanderung in die Neue Welt (im Laufe des 16. Jahrhundert rund einhunderttausend Spanier und Portugiesen) und allgemeine Landflucht führten zu einem Bevölkerungsrückgang im Spanien um mehr als zehn Prozent.
Nahrungsmittel waren so knapp, daß es den spanischen Königen ohne Mühe gelang, die verarmten, aber angeblich stolzen kastilischen Adeligen als Infanteristen für die Truppe zu gewinnen, denn wegen des Fehlens von Tierfutter konnte die Kavallerie keine bedeutende Stellung bei der »reconquista« einnehmen. Die »Spanier gehen lieber in den Krieg oder nach Indien, um auf solche Weise Reichtum zu erwerben«, schrieb ein Beobachter. Andererseits: Ein »Verlust« von vierhunderttausend Menschen in jener Zeit und gleichzeitig unzureichende Nahrung für die Verbliebenen. Ohne Sklavenfängerei in Afrika und ihre Verschiffung nach Amerika hätte Europa mit dem riesigen Neuland nicht viel anfangen können. »So viele Menschen sind nach Westindien aufgebrochen, daß Sevilla gering bevölkert ist und fast unter dem Regiment der Weiber steht« zitiert Braudel einen Bericht von Navagero aus dem Jahr 1563.
Mehr aber als Gold, Silber, Perlen, Smaragde und Gewürze trug die Kartoffelstaude und trugen die anderen Pflanzen zum Wohlstand bei. Gemessen an der Weltproduktion eines Jahres ist die Kartoffel heute dreimal so wertvoll wie das gesamte Gold und Silber, das die Spanier aus der neuen Welt nach Spanien verschleppten.
Gold und Silber erlaubten es der spanischen Krone, das stehende Heer von 30.000 auf über 200.000 Mann auszudehnen – die größte europäische Armee, die bis zu diesem Zeitpunkt bekannt war. Ein Heer, das in dieser Größe nie benötigt wurde und nur der Beschäftigung des Adels45) diente, damit diese nicht auf die Idee kamen, gegen das verlotterte Königshaus zu putschen. Dieses Heer fraß den indianischen Reichtum auf, ließ das Land verarmen und führte in ganz Europa zur Inflation. Die aus der amerikanischen Kolonie bezogenen Profite verschwanden weitgehend auch durch die Kosten für die Verwaltung46). Andererseits sind die Einführung von Kartoffel, Mais und Tomate und das –- aus europäischer Sicht – »freie« Land eindeutig als Sicherheitsventil für das explodierende Bevölkerungswachstum anzusehen.
Jean Anthelme Brillat-Savarin stellt 1826 in seiner »Physiologie des Geschmacks« für Gourmets und Gourmands (und Sybariten?) fest:
»Man entdeckte dort außerdem die Kartoffel, den Indigo, die Vanille, die Chinarinde, den Kakao, das sind die wahren Schätze.«
Ähnlich schrieb Georg Christoph Lichtenberg einige Jahrzehnte zuvor über Amerika in den »Sudelbüchern«: »Es ist das wahre Kartoffel-Ophir47) der Welt.«.
Der Verleger Johann Georg Krünitz schreibt in seiner in mehreren Lieferungen von 1773 bis 1785 in Leipzig herausgegebenen »Oeconomisch-technologischen Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Land-Wirtschaft in alphabetischer Ordnung«,
»daß die Entdeckung von Amerika, durch die Verbreitung dieser Frucht, der Nachwelt wichtiger geworden ist, als durch die reichen Goldminen.«
In seiner umfassenden Darstellung der Knolle weist Krünitz auch auf die »reinigende Wirkung« der Kartoffel als Vorfrucht für nachfolgende Früchte hin:
»Ein Feld, das mit Kartoffeln bestellt gewesen, und darauf im Herbste umgepflüget und mit Röcken oder Weizen bestellt worden ist, gibt ganz vortreffliche Frucht; und man hat angemerkt, daß die Kartoffeln ein Mittel seyn, den so schädlichen Huflattich zu vertilgen.«
Aber Krünitz schreibt auch,
»man hat sie beschuldigt, daß sie durch die angeführten Bestandtheile die Kräfte der Verdauung sehr schwäche, zuviel erdige Bestandtheile in die Säfte bringe, und nach und nach alle Übel hervorbringe.«
Hinzu kam, nicht zu unterschätzen, eine sprunghafte Weiterentwicklung in den Natur- und Geisteswissenschaften. Dazu mehr an anderer Stelle.
Zu den Streitereien über den Zehnten gibt Krünitz wieder:
»Wenn die Kartoffel auf den Felde gezogen sind, dessen Früchte sonst gewöhnlich verzehntet worden sind, so muß auch der Kartoffelzehnt davon gegeben werden.«
Nach Amerika fuhren hauptsächlich Spanier und Engländer: Die Spanier nach Mittel- und Südamerika, die Engländer an die Ostküste Nord-Amerikas – wenn sie nicht auf Kaperfahrt im Süden, im Trüben, fischten. Die Besatzungen der spanischen und englischen Schiffe nahmen auf der Heimreise nach Europa getrocknete Kartoffeln als Schiffsproviant an Bord, um die eintönige und einseitige Schiffskost zu verbessern. Die Verpflegung bestand üblicherweise aus hartem Schiffszwieback, zähem Pökelfleisch und Salz-Fisch, Knoblauch – um den fauligen Geschmack zu überdecken – Olivenöl und gekochten Eiern. Federvieh war nur für die Offiziere vorgesehen. Schiffsratten48) waren eine nicht unübliche Frischfleischbeigabe. Zum geschmacklichen Überdecken dieser Nahrung war zum Beispiel in der schwedischen Flotte zu Anfang des 17. Jahrhunderts drei Liter Bier pro Tag (auf See) vorgesehen. Seeleute und Soldaten mußten sich selbst verpflegen, wenn sie in einem Hafen lagen; es ist anzunehmen, daß sie sich an Land gesünder, also auch mit Kartoffeln, verpflegten. Wer heutzutage wirklich in die Verlegenheit kommen sollte, Ratten essen zu müssen, der merke sich, daß die Ratten abgezogen werden müssen wie Hasen und dann zubereitet wie Rindfleisch mit einer großen Anzahl verschiedener Gewürze; und dazu gibt es Salzkartoffeln49), da diese das einzige sein werden, was in solchen Zeiten noch zu haben sein wird.
Bei kartoffelverpflegten Mannschaften blieb Scharbock (Skorbut), die Krankheit aller Seefahrer, aus50); es verschwand auch auf europäischen Schiffen das durch einseitige Reiskost verursachte Beri Beri. Auch die durch die ausschließliche Mais-Ernährung verursachte Pellagra51) ist nicht mehr anzutreffen, wenn die Menschen sich mit Kartoffeln verpflegen. Der Entdeckungsreisende James Cook nahm auf seiner Reise neben Sauerkraut und Zitronen auch Kartoffeln zur Verpflegung der Mannschaft an Bord; kein einziger Mann seines Schiffes »Resolution« starb an Skorbut – in einer Zeit, als hundert Skorbut-Tote auf einen Ostindien-Segler keine Seltenheit waren. Für die Verpflegung der Mannschaft mit Sauerkraut mit seiner gegorenen vegetabilischen Säure erhielt er eine Goldmedaille der Londoner »Royal Society«52).
Die auf allen Meeren gefürchteten und freie Beute suchenden Piraten hatten vielfach Kartoffeln und Sauerkraut (Ludwig Uhland: »Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut, Drum ist’s ein deutsches Essen«) an Bord, so daß auf diesen Schiffen das lebensbedrohende Skorbut nur selten auftrat53). Leicht erklärlich: Seeleute waren zumeist Menschen aus den Unterschichten, bei den Piraten herrschte zwar ein strenges Regiment (siehe John Silver), aber in Nahrungsfragen ging es wohl »demokratischer« zu (»Likedeeler«)54); die »dummen« Unterschichten scheuten sich nicht, Kartoffeln zu essen – anders als auf den von heruntergekommenen, landlosen, ungebildeten Adligen befehligten Schiffen, die dem Getreide treu blieben.
Es ist anzunehmen, daß in manchen Heimatorten dieser Schiffsbesatzungen gleichfalls Kartoffeln angebaut wurden (eindeutige Zeugnisse hierüber fehlen), um Kartoffeln auch auf der Fahrt nach Amerika der üblichen Schiffsverpflegung beizugeben (nur auf italienischen Schiffen wurde der venezianische Schiffszwieback, der als der beste galt, als Proviant verteilt). Salaman verweist auf einen Kapitän Patten, der mit seiner Mannschaft 1791 sieben Monate auf Tristan da Cunha lebte und Gemüse anbaute. Zwischen 1810 und 1815 wurde erneut ein Versuch unternommen, die Kartoffel und andere Gemüse auf Tristan da Cunha heimisch zu machen und dieses an vorbeifahrende Clipper zu verkaufen. Ab 1816 ließ sich William Glass nebst Frau und Kindern dauerhaft auf der Insel nieder und versorgte mit Kartoffeln die vorbeifahrenden Amerika-Segler und Walfänger. Seit etwa 1810 beherrscht der Kartoffelanbau die Wirtschaft des Eilandes.
Die schon bei den Normannen bekannte Vorbeugungsmethode gegen Skorbut, der Verzehr von Zwiebeln war vergessen worden. Erst die Kenntnis eines Verfahrens, Gemüse und Obst in Flaschen zu erhitzen (Anfang des 19. Jahrhunderts durch François Appert) und damit haltbar zu machen, und erst mit der Erfindung der Konservenbüchse (1812) durch Bryan Donkin wurde die Schiffsverpflegung und die Versorgung in den Armeen besser und abwechslungsreicher, aber – wegen der möglichen Nebenwirkungen – auch gefährlicher55). Bis in die 1920er Jahre waren neben der möglichen Vergiftung durch bleihaltige Konservendosen die bakteriologischen und hygienischen Verhältnisse in den Schlachthäusern von Chicago, dem Gateway to the West, ein Dschungel, wie Upton Sinclair schrieb; im übrigen habe er nicht die Herzen, sondern nur den Magen der Bürger getroffen.
Die Kartoffel, ursprünglich nur für die Ziergärten der Granden und hidalgos vorgesehen, die sie einerseits im Geschmack mit den Kastanien und Trüffeln verglichen und andererseits als klebrig und unverdaulich ansahen, wandelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Nahrungsmittel der Seefahrerfamilien und anderer unterer Schichten. Obwohl die Kartoffel durch die Berichte aus Amerika (José de Acosta veröffentlicht 1550 die »Historia natural y moral de las Indias«) den Gebildeten bekannt gewesen sein dürfte, blieb der Anbau auf wenige Orte, zumeist Hafenstädte, beschränkt. Andererseits: Da sie angeblich nicht schmeckte, errang die Kartoffel den Ruf, aphrodisiakische Wirkungen hervorzurufen und wurde deshalb vom Adel teuer bezahlt. Der Bericht von Acosta wurde ins Italienische, Französische, Englische und Niederländische übersetzt, so daß die Kartoffel bekannt wurde. Acosta nennt die Kartoffel »Papa« und erklärt, daß die »Indianer« diese anstelle Brot äßen.
In Spanien verlagerte sich der Kartoffelanbau bald nach Galizien – noch heute eine der strukturschwächsten (d.h. ärmsten) Regionen Spaniens –, nach Andalusien, an die Sierra Nevada und nach Alt-Kastilien; von dort gelangte sie nach Genua. 1557 meinte der italienische Arzt, Mathematiker und Astrologe Geronimo Cardano (Hieronymus Cardanus) über die Kartoffel in »De rerum Varietate«: »Sie ist eine Art Trüffel, die man anstelle von Brot essen kann.« Cardano berichtet über die Kartoffel, ohne daß er sie selbst gesehen hat, sie sei Brotersatz bei den »Indianern« der Neuen Welt.
Kartoffeln waren die ideale Nahrung für die Armen. Johann Georg Leopoldt schreibt 1759:
»Tartuffeln sind den Armen, welchen das Brot zu schaffen schwer fällt, eine gute sättigende Speise; sie brauchen weder Brot noch Butter, wenn sie nur Tartuffeln zu kochen haben, doch Salz muß zum Einstreuen seyn.«
Der Agrarhistoriker Heinz Haushofer beschreibt die Kartoffelgeschichte als
»ein langsames Einsickern über die botanischen Gärten in die Bürgergärten und endlich in die Hausgärten und -änger der Bauern.«
Die anfänglich als Nahrungsmittel verachtete Kartoffel (Uwe Timm fälschlich: »Der Prolet unter den Gemüsen«), kommt gewaschen und gepellt von den blanken Tischen der Armen auf die damastenen Tischdecken der Bürger. Sie ist das einzige Nahrungsmittel, daß vom Gesinde und den Tagelöhnern herkommend die Tische der Reichen erobert. Hans Christian Andersen: »Es schadet nichts, in einem Entenhof geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat.« So war das mit der Kartoffel56).
»Ewig sey von mir verflucht,
du verhaßte Pöbelfrucht!
Dich gebar der Schooss der Erde
Für den Schlud der Borstenheerde
Doch der Menschen Sparsucht hat
Aus des Mastviehs dunklen Koben
Dich an seinen Tisch erhoben,
und nun essen Dorf und Stadt
ohne Schaam an dir sich satt.
Pfui, o pfui! Ist das zu loben?«
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