10. Bevölkerungspolitik, AIDS und Täuschung
Auf der letzten Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo wurde AIDS ein besonderer Platz eingeräumt. Verdeutlicht wurde dies durch seine Integration in das Konzept der "reproduktiven Gesundheit", einen zentralen Bezugspunkt der Diskussionen in und um Kairo. Die Verknüpfung dieses medizinischen Themas mit der Bevölkerungspolitik kommt jetzt offensiv daher, ist so neu jedoch nicht. Sie war schon einige Zeit davor weniger publikumswirksam vollzogen worden, ähnlich, wie es beispielsweise mit der Verbindung zwischen Gentechnik und AIDS geschehen war. In beiden Fällen wurde Mitte/Ende der 1980er ein breiter kritisiertes Gebiet an einen Bereich gekoppelt, der nur von einer winzigen Minderheit mit Kritik bedacht wird. Diese Verbindung nützt beiden Seiten: einerseits wertet die fast flächendeckende Me-nungseinheit zum Thema AIDS auch die Bevölkerungspolitik (oder die Gentechnik) auf, anderserseits gewinnt die AIDS-Politik zusätzliche starke Lobby-Gruppen und dadurch weiter an Stabilität.
Während also die herrschenden Meinungen zur Bevölkerungspolitik und zu AIDS zusammengefunden haben, ist dies bei den jeweiligen kritischen Strömungen sehr viel weniger der Fall. Während die AIDS-Kritik die Vorbehalte gegen die Bevölkerungspolitik zumeist nicht aufgreift, hat die Bevölkerungspolitik-Kritik die offizielle AIDS-Version prinzipiell angenommen und versucht teilweise, sie argumentativ in ihre Forderungen einzubauen. So heisst es beispielsweise in einem internationalen Aufruf gegen die "Anti-Schwangerschafts-Impfung" neben vielen anderen Gegenargumenten: "Als vor 20 Jahren die Erforschung immuno-logischer Verhütungsmittel begann, hat niemand darüber nachgedacht, ob dieses Verhütungsprinzip direkt oder indirekt die Risiken einer HIV-Infektion vergrössern oder die Entwicklung des AIDS-Krankheitsbildes beschleunigen könnte." (1) Dies impliziert unglücklicherweise, dass die "Anti-Schwangerschafts-Impfung" vor 20 Jahren etwas weniger schlimm gewesen wäre als sie es heute ist und dass dort, wo die HIV-Statistiken niedrige Zahlen melden, zumindest dieser Hinderungsgrund eigentlich nicht existiert. Ausserdem wird damit auf ein Argument gebaut, das bei genauerer Betrachtung nicht trägt und auf diejenigen zurückfallen könnte, die es verwenden. Diese Gefahr, die immer droht, wenn von KritikerInnen herrschende Meinungen übernommen werden, wird mit AIDS sehr konkret. Noch problematischer daran ist, dass nicht nur die Bevölkerungspolitik selbst, sondern auch die Kritik daran zu einer Stabilisierung der AIDS-Orthodoxie führt. Das ist eine Konsequenz, deren Opfer einmal mehr diejenigen sind, die auch unter der Bevölkerungspolitik leiden.
AIDS- und Bevölkerungspolitik als Instrumente desselben Herrschaftsapparates können nicht gegeneinander ausgespielt, sondern müssen zusammen diskutiert werden. Dieser Text ist der Versuch einer kritischen Synthese, ein erster Anlauf mit vielen Lücken und Fragezeichen.
Über AIDS und einige seiner medizinischen, politischen und sonstigen Abgründe ist in dieser Broschüre und in den beiden vorangegangenen Heften des Projekts schon einiges geschrieben worden, zum Thema Bevölkerungspolitik dagegen fast nichts. Daher folgt jetzt
Ein Ausflug in die Bevölkerungspolitik
Wer bevölkerungspolitische Schriften liest, stösst früher oder später auf Thomas Malthus (1766-1834), einen Ahnherren der "Bevölkerungsexplosion". Er war Pfarrgehilfe in einer süd-englischen Landgemeinde und registrierte in dieser Funktion Geburten und Sterbefälle. Seiner Meinung nach war das Verhältnis zwischen beiden unausgewogen, mit einem Übergewicht an Geburten. Malthus schrieb seine Beobachtungen nieder, bettete sie in eine Theorie ein und veröffentlichte 1798 den "Versuch über das Bevölkerungsprinzip, soweit es auf die zukünftige Vervollkommnung der Gesellschaft einwirkt, mit Bemerkungen über die Betrachtungen Godwins, Condorcets und anderer Schriftsteller" (in 2). Darin ging es um die Vermehrung der Menschen, konkret um die Vermehrung der Armen.
Deren Anzahl stieg im England der Jahrhundertwende, doch war dies kein biologischer Vorgang. Es gab insgesamt einen Anstieg der Armut im "Vereinigten Königreich", das innerhalb kurzer Zeit die negativen Auswirkungen von drei mehr oder weniger revolutionären Revolutionen auf seine "Untertanen" abwälzte. Durch eine von ihnen hatte sich gerade trotz englischer Kriegsgewalt ein beträchtlicher Teil der nord-amerikanischen Kolonie für unabhängig erklärt, wodurch nicht nur ein "Exportland" für Menschen, sondern vor allem eine Quelle und ein Absatzmarkt für Güter weggefallen war. In den 1790ern war wieder Krieg, die englische Krone liess auf dem europäischen Kontinent durch ihre "Untertanen" die Französische Revolution bekämpfen, um deren Übergreifen auf diese und sich selbst zu verhindern. Die Industrielle Revolution schliesslich, die über die BewohnerInnen der britischen Inseln selbst hereingebrochen war und gewaltsam ein Agrarland in eine Industriegesellschaft umwandelte, führte zur Verelendung der meisten "Untertanen". Allein durch die Einführung des mechanischen Webstuhls verloren um die Jahrhundertwende hunderttausende WeberInnen ihre Existenzgrundlage und wurden dann zum ausgebeuteten Industrieproletariat oder verhungerten. (3) Um in dieser Umbruchzeit einen organisierten Widerstand zu verhindern, gab es gegen Handwerker- und Arbeiterverbände "die grausamen Verfolgungen, die unter der Geltung der Gesetze von 1797 und 1799 stattfanden". (4)
Parallel dazu wurde der im Spätmittelalter begonnene feudale Landraub durch "Enclosure Acts" (Einhegungsverfügungen) weitergeführt, um "das Gemeineigentum abzuschaffen, und es wurde durch die nahezu viertausend Acts, die zwischen 1760 und 1844 ergingen, so gut entfernt, dass heute (d.h. um 1900) nur schwache Spuren davon zu finden sind. Das Land der Dorfgemeinden wurde von den Lords genommen, und die Aneignung wurde in jedem einzelnen Fall vom Parlament sanktioniert." (4) Dadurch war nicht nur dem Adel, sondern auch den besitzergreifenden Industriellen gedient: "In England haben die Einhegungen des 18. Jahrhunderts zu einer grünen Revolution auf dem Lande geführt. Nahrungsmittel von den neuen, Marktfrüchte produzierenden Bauernhöfen wurden in die Städte geschickt, um Bauernkinder zu ernähren, die in den neuen Fabriken die Industrielle Revolution erschufteten." (5) Unter diesen Entwicklungen in England hatte besonders die Landbevölkerung zu leiden, die Malthus dann vor Augen hatte.
Mit der Frage der Armut hatte sich noch vor ihm der im Titel des "Bevölkerungsprinzips" genannte Marquis de Condorcet befasst, ein Mathematiker, Sozialwissenschaftler und Politiker in der Frühphase der Französischen Revolution. Er vertrat in einer 1795 veröffentlichten Schrift die Meinung, dass die Vermehrung der Menschen die der Lebensmittel eines Tages übersteigen könnte und sah die Lösung für eine solche hypothetische Situation in einem Massnahmenbündel: "durch Produktionszuwächse, bessere Möglichkeiten der Lebensmittelkonservierung, Vermeidung von Abfällen und durch Ausbildung (vor allem der Frauen), was gemeinsam dazu beitragen würde, die Geburtenrate zu senken." (6) Einen weitergehenden politischen Ansatz hatte der englische Schriftsteller William Godwin verfolgt, auf den sich der "Bevölkerungsprinzip"-Titel ebenfalls bezog. Mit seiner Untersuchung "Das Eigentum" hatte er 1793 eine theoretische Grundlage des Anarchismus erarbeitet. (in 7)
Sowohl von den Ideen Godwins als auch von denen Condorcets waren Malthus' Lehrer beeinflusst, es gelang ihnen jedoch nicht, ihren Schüler davon zu begeistern - im Gegenteil. (8) Wie der mit ihren Vorstellungen politischer Veränderungen umging, beschrieb ein moderner Malthus-Apologet: "Heftig trat Malthus dem doktrinären Idealismus der Reformer entgegen, die die Übel und Missbräuche der englischen Gesellschaft durch wirklichkeitsfremde Programme zu heilen hofften; er betonte, für eine wirksame Heilung der 'unaussprechlichen Übel der Gesellschaft' sei es notwendig, bis an die Wurzeln des Problems vorzustossen. Blosse Linderungsmittel für die am stärksten ins Auge fallenden Symptome richteten mehr Schaden als Nutzen an." (2) Hatte er erstmal Symptome und deren Wurzeln umdefiniert, konnte Malthus darauf ein ganzes Gedankengebäude aufbauen.
Dessen Kern bildete die These, dass die Menschenzahl schneller zunimmt als die Nahrungsmittelproduktion, womit er teilweise die Hypothese Condorcets als Analyse übernahm. Malthus folgerte weiter, dass es zu Hungersnöten, Epidemien und Kriegen kommt, wenn die Fortpflanzung der Menschen nicht reguliert wird. Und da es in England Hunger gab, lebten dort seiner Meinung nach zu viele Menschen, eben die, die zu arm waren, um sich genügend Nahrung verschaffen zu können. In Malthus' Universum waren diese Menschen nicht nur überflüssig, sondern sogar störend, und so setzte er sich für ihre Abschaffung ein. Einerseits sollte dies durch die Verhinderung der Geburt zukünftiger Armer geschehen. Dafür bot er, ganz Mann der Kirche, "sittliche Enthaltsamkeit" (in 9) an und forderte von anderen Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung, die seine Arbeitgeberin seit Jahrhunderten durch die "Hexenverfolgung" bekämpfte, Abstand: "In der Tat würde ich jederzeit künstliche und unnatürliche Methoden, die Bevölkerungsvermehrung zu hemmen, vorzugsweise tadeln, sowohl wegen ihrer Immoralität, wie wegen ihrer Tendenz, einen notwendigen Anreiz zur Betriebsamkeit zu beseitigen. Wenn jedes Ehepaar durch den blossen Wunsch der Zahl seiner Kinder eine Grenze setzen könnte, so stünde ohne Zweifel zu befürchten, dass die Trägheit des Menschengeschlechts ausserordentlich zunehmen, und dass weder die Bevölkerung einzelner Länder, noch die der ganzen Erde jemals ihre natürliche und angemessene Höhe erreichen würde." (in 9)
Der Massstab für diese Höhe war letztlich der Bedarf der Herrschenden an "Untertanen". Die sollten ihre "Betriebsamkeit" für den Bedarfsfall aufrechterhalten und am eigenen Leibe spüren, ob er nun vorhanden war - oder ob er, wie zu den Zeiten Malthus', nicht eintrat. So erklärte der, "dass, wenn der Arbeitslohn nicht ausreicht, um damit eine Familie zu erhalten, dies ein unbestreitbares Zeichen ist, dass ihr König und ihr Vaterland nicht mehr Untertanen brauchen, oder wenigstens nicht mehr erhalten können, und dass sie, wenn sie in diesem Falle heiraten, weit davon entfernt eine Pflicht gegen die Gesellschaft zu erfüllen, derselben vielmehr eine unnötige Last aufbürden, indem sie zugleich sich selbst in Not und Elend stürzen." (in 9) Damit dieser Sturz auch tief genug ausfiel, forderte Malthus konsequenterweise, die Armenunterstützung abzuschaffen. Er persönlich hätte es ohnehin vorgezogen, "wenn es die Armengesetzgebung niemals gegeben hätte, auch wenn dann etwas mehr Fälle ärgster Not vorgekommen wären." (in 10) Dies war die andere Seite seines Programms zur Abschaffung der Armen.
Abgesehen von einigen Details wie den Rechnereien und seiner Wortschöpfung "Daseinskampf" (in 10) war das "Bevölkerungsprinzip" nicht einmal besonders neu, denn schon lange vor Malthus wurden in England Menschen durch die Enteignung von Gemeineigentum zu Landlosen gemacht und zu "Überzähligen" erklärt. Nach der Niederschlagung eines Bauernaufstandes wurde im 15. Jahrhundert mit der Konfiszierung begonnen, (4) und im 16. Jahrhundert "führte ein Wechsel in der Landnutzung direkt zu der Erscheinung von 'überzähligen Menschen'. Die besitzenden Stände hatten beschlossen, dass Schafe mehr Profit einbringen würden als der Ackerbau. Schafe jedoch brauchten eine Menge Land und nur wenige Hirten. Daher wurde das Land 'eingezäunt', und Tausende Ackerland bebauende Bauern wurden so ausgeschlossen. Viele zeitgenössische Berichterstatter sahen in der anwachsenden Zahl besitzloser Vagabunden ein sicheres Zeichen für 'überzählige Menschen' - eine Ansicht, die dazu beitrug, die überseeischen Eroberungen zu motivieren. Die Übervölkerung existierte natürlich nur im Verhältnis zu einer Wirtschaft, die auf extensive Schafzucht gegründet war. Die Gesamtbevölkerung Englands im sechzehnten Jahrhundert war kleiner als die Bevölkerungszahl einiger heutiger englischer Grossstädte zusammengenommen." (11)
Anders als seine Vorgänger, die wie er die Folgen der "Einhegungen" verschleiern halfen, wurde Malthus nicht zum geschichtlichen Treibgut, denn er hatte seine Theorien besser verpackt und zur richtigen Zeit am richtigen Ort formuliert. Damit bediente er zielsicher die herrschende Meinung mit systemkonformen Erklärungs- und Lösungsmustern, die ein Gegengewicht zu solchen Vorstellungen wie denen von Godwin und Condorcet darstellten und offiziell dementsprechend freudig aufgegriffen wurden. Mit Malthus wurde weiter nach der traditionellen Devise verfahren: "'Halte du sie dumm, ich halte sie arm,' sagte der Fürst zum Priester". Der Lohn, den der Pfarrgehilfe aus Süd-England für seine Kooperation erhielt, bestand in jährlich 100 Guineen vom englischen König und der Mitgliedschaft in der 'Royal Society'. Ausserdem wurde er ein Professor für Geschichte und Politische Ökonomie - bezeichnenderweise an einer Ausbildungsstätte der 'Ostindischen Kompanie'. (8) Der Export der Ideologie warf seinen Schatten voraus.
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Nach Malthus' Tod erhielt sein Gedankengebäude Mitte des 19. Jahrhunderts ideologische Verstärkung und Erneuerung, von Charles Darwin aus England. Der forschte in Süd-Amerika über die dortige Tier- und Pflanzenwelt und liess sich bei seinen Interpretationen unter anderem durch Malthus' Buch inspirieren, über das er äusserte: "Hier endlich hatte ich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte". (in 10) So ausgestattet und gedanklich der heimischen Industriellen Revolution verhaftet, sah Darwin bei seinen Forschungsobjekten einen ähnlich gnadenlosen Kampf um die Existenz wie in England und beschrieb seine Beobachtungen aus diesem Blickwinkel. Die daraus resultierende Evolutionstheorie veröffentlichte er Mitte des Jahrhunderts in dem Buch "Die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese oder die Erhaltung begünstigter Rassen im Kampf ums Dasein". Malthus' "Daseinskampf" in der menschlichen Gesellschaft wurde so auf die Galapagos-Schildkröten übertragen.
Darwin beschränkte sich im wesentlichen auf seine Interpretation von Flora und Fauna, wenn er auch in einer weiteren Abhandlung der Evolutionstheorie, der "Abstammung des Menschen", einige seiner politischen Ansichten erkennen liess: darin "tauchte das alte Malthusianische Gift wieder auf - nämlich in Darwins Bemerkungen über den angeblichen Nachteil der Erhaltung der 'geistig und körperlich Schwachen' in unseren zivilisierten Gesellschaften". (4) Darüber hinaus war Darwin nicht an der Rück-Übertragung seiner Theorie auf die menschliche Gesellschaft interessiert, dies wurde aber von anderen, vor allem von Herbert Spencer, durch die Entwicklung des Sozialdarwinismus vollzogen. Darin wurde der "Kampf ums Dasein" um den Begriff vom "survival of the fittest" (Überleben des Tauglichsten, Tüchtigsten, Stärksten, Fittesten - je nach Geschmack) erweitert, eine Redewendung, die Darwin dann wiederum von Spencer übernahm. (10) Der Sozialdarwinismus stellte seine Vorstellungen als Naturgesetz hin, das sich ohne jegliche soziale Unterstützung frei entfalten sollte. Dadurch sollte der "Kampf" hart genug ausfallen und nur noch die "Tauglichsten" übrig lassen, während die Schwächeren mitsamt ihren Problemen verschwinden sollten. So war Malthus' Forderung nach der Abschaffung der Armenunterstützung zu Ende gedacht. Während der aber noch im feudalen Weltbild der gottgewollten und relativ statischen Hierarchie gelebt hatte, förderte der erstarkende Kapitalismus eine aggressiv-dynamische Gesellschaftsordnung mit entsprechender Ideologie. Im 19. Jahrhundert gab es in den Herrschaftsstrukturen mehr Bewegung als vorher, die Armen aber blieben arm und waren daran angeblich weiterhin selbst schuld.
Der Sozialdarwinismus rief auch Widerspruch hervor. Einer der Kritiker war der Anarchist und Naturforscher Petr Kropotkin, der feststellte: "Es gibt keine Schändlichkeit in der 'gesitteten' Gesellschaft oder in den Beziehungen der Europäer zu den sogenannten niedriger stehenden Rassen oder der Starken zu den Schwachen, die man nicht mit jener Formel entschuldigen wollte." (7) Er selbst setzte Ende des letzten Jahrhunderts seine eigenen Studien, zusammengefasst als "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" dagegen und erklärte darin, dass gerade die Solidarität wichtig für den Fortbestand und die Weiterentwicklung von Mensch und Tier ist. Von den meisten Autoritäten seiner Zeit wurde er ignoriert, einige Sozialdarwinisten aber benutzten seinen Ansatz und drehten ihn in ihrem Sinne um. Das führte dazu, dass "eine ganze Zahl von Anhängern der Entwicklungstheorie wohl die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe bei den Tieren anerkennen, sie aber, wie Herbert Spencer, für die Menschheit leugnen. Für den primitiven Menschen war - so behaupten sie - der Krieg aller gegen alle das Gesetz des Lebens." (4)
Es war diese kriegerische Ideologie, die trotz aller Bemühungen Kropotkins (und anderer) allgemein durchgesetzt werden konnte. Um die Jahrhundertwende war es so, "dass die Deutung des Kampfes ums Dasein als eines Schlachtrufes im Sinne von 'Wehe den Schwachen!' für ein wissenschaftlich festgestelltes Naturgesetz galt und in den Herzen der Engländer fest, so fest wie ein religiöses Axiom, gewurzelt war." (7) Von dort aus verbreitete sich die Ideologie weiter und gelangte auch in die USA, wo sie gerade bei den brutalsten Kapitalisten wie John D. Rockefeller I besonderen Anklang fand: "Das Wachsen eines grossen Geschäftsunternehmens ist lediglich die Erhaltung des Tauglichsten ... Die schöne amerikanische Beauty-Rose ... kann nur durch die Opferung der jungen Knospen um sie herum erzielt werden. Das ist auch im Geschäftsleben keine schlechte Tendenz. Es ist nichts anderes ans die Ausführung eines Gesetzes der Natur, eines Gesetzes Gottes." (in 2) Während er und sein Sohn Rockefeller II dies immer wieder predigten, verbannten sie Darwins "Entstehung der Arten" aus ihren ArbeiterInnen-Bibliotheken, da sie als christliche Fundamentalisten das Buch für "subversiv" hielten. (12) Der Sozialdarwinismus dagegen passte wie vorher Malthus' "Bevölkerungsprinzip" in seine Zeit und gab dem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem einen philosophischen Anstrich und ein pseudowissenschaftliches Fundament. Kropotkins Gedanken dagegen wurden (und werden) der Öffentlichkeit weitestgehend vorenthalten, wie auch die William Godwins, des Anarchisten aus dem 18. Jahrhundert. Ihr gegenüber wurde (und wird) die herrschende Meinung mit Hilfe Malthus' und Spencers durchgesetzt.
Deren Gedanken flossen Ende des 19. Jahrhunderts in die Eugenik ein, die auf Francis Galton, einen Vetter Darwins, zurückgeht. Sie gesteht den Menschen zwar widerwillig soziale Hilfen zu, jedoch nicht, sich nach eigenem Belieben fortzupflanzen. Das Urteil darüber, wer Kinder haben sollte und wer nicht, sollte vielmehr der Eugenik, der Galton den Stellenwert einer "wissenschaftlichen Religion" (in 13) gab, vorbehalten werden. Galton selbst teilte Menschen ein in "eine kleine Klasse 'Erwünschter', eine grosse Klasse 'Annehmbarer' ... und eine kleine Klasse 'Unerwünschter'." (in 2) Nach dieser Umdefinition und Entpolitisierung des Begriffs Klassengesellschaft seines Zeitgenossen Karl Marx folgte die Vision einer "tauglichen" Gesellschaft (ohne Klassenkampf): "Es ist bekannt, dass ein beträchtlicher Teil des ungeheuren Stromes britischer Wohltätigkeit auf indirekte und unbeabsichtigte Weise die Erzeugung der Untauglichen fördert; es wäre ausserordentlich wünschenswert, wenn das Geld und andere Unterstützungen, die den schädlichen Formen der Wohltätigkeit zugewendet werden, für die Erzeugung und das Wohlergehen der Tauglichen verwendet werden könnten." (in 2)
Um sich der "Unerwünschten" zu entledigen, wollte die Eugenik nach Galton einen etwas anderen Weg als der Sozialdarwinismus ("Natürliche Auslese") einschlagen: "Die Natürliche Auslese basiert auf überreicher Fruchtbarkeit und Massenvernichtung, die Eugenik darauf, nicht mehr Individuen auf die Welt zu bringen, als ausreichend versorgt werden können, und diese nur vom besten Schlag." (in 2) Kurz zusammengefasst geht es dabei um die Übertragung der Pflanzen- und Tierzucht auf die Menschen, um eine "qualitative" und quantitative Menschenzucht nach dem Nützlichkeitsaspekt der gerade herrschenden Gesellschaftsordnung. Vieles in dieser "wissenschaftlichen Religion" hatte Malthus ein Jahrhundert zuvor bereits angedacht. Im Gegensatz zu ihrem Ahnherren wollten sich die Eugeniker aber nicht auf die "sittliche Enthaltsamkeit" der "Klasse Unerwünschter" verlassen, sondern begannen noch vor der Jahrhundertwende mit Sterilisationen. (14)
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Dies war grob das ideologische Umfeld, als Ende des 19. Jahrhunderts wiederum aus England die nächste grössere "Bevölkerungsexplosion" angemeldet wurde: "Während des späten 19. Jahrhunderts mehrten sich unter prominenten Wissenschaftlern die Stimmen, die vor einer Ernährungskrise warnten. Eine explosionsartig wachsende Weltbevölkerung stand einer ungleich langsamer wachsenden Nahrungsproduktion gegenüber. Der Geist des Thomas Malthus spukte durch die Welt" (15), erweckt von einem britischen Naturwissenschaftler, "der nebenberuflich dem Spiritismus verfallen war" (16). Der hatte vor einem Publikum aus Agrarwissenschaftlern und Militärs verkündet, dass der Salpeter, der aus Chile importiert wurde, in absehbarer Zeit zur Neige gehen würde, und: "Wenn es nicht gelänge, Ersatz zu finden, indem man den Stickstoff der Luft in Düngemitteln bindet, dann werde 'die grosse kaukasische Rasse ... aufhören, die erste der Welt zu sein, und wird duch Rassen, für die das Weizenbrot nicht lebensnotwendig ist, aus dem Dasein verdrängt werden.'" (16) "Kaukasier" sind im rassistischen Kontext keineswegs BewohnerInnen des Kaukasus, sondern Menschen weisser Hautfarbe allgemein - der Begriff wird in der medizinischen wissenschaftlichen Literatur übrigens immer noch verwendet. Von der Einteilung der Menschheit in Weizen- und Reis/Mais/Hirse-"Rassen" wurde mittlerweile allerdings Abstand genommen.
Die "Bevölkerungsexplosion" an sich war zu dieser Zeit des "klassischen" Imperialismus in Europa nichts Neues, allerdings tauchte sie zunächst nicht im Zusammenhang mit Mangel-, sondern mit Überproduktion auf. So schrieb Ende des Jahrhunderts Cecil Rhodes (Besitzer eines Unternehmens, dem Rhodesien = Zimbabwe "gehörte"): "Meine grosse Idee ist die Lösung des sozialen Problems, d.h. um die 40 Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschliessen, um den Überschuss der Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen." (in 3) Ein entsprechendes "Problem" mit entsprechender "Lösung" gab es auch auf dem europäischen Kontinent. Einige Jahre vorher hatte Karl Liebknecht im Reichstag dazu gesagt: "Fragen wir uns ruhig: was wird mit der sogenannten Kolonialpolitik eigentlich bezweckt? Wenn wir auf den Grund gehen, so wird als der Zweck hingestellt: der Überproduktion und der Übervölkerung zu steuern. Aber was ist denn Überproduktion, und was ist Übervölkerung? Das sind doch sehr relative Begriffe ... Die 'Übervölkerung' liegt eben darin, dass wir mangelhafte soziale und wirtschaftliche Einrichtungen haben. Und gerade so ist es mit der Überproduktion." (in 3) Hüben wie drüben also ging es um die "Über(be)völkerung" mit Menschen, die zu arm waren, um als KäuferInnen der von ihnen über-produzierten Waren überhaupt in Frage zu kommen (abgesehen davon, dass ohnehin an ihren Bedürfnissen vorbeiproduziert wurde).
Als die Salpeter-Krise prophezeit wurde, wurden die Verhältnisse dann wieder auf malthusianisches Mangel-Mass heruntergeredet, das jedoch als Drohung in einer nebulösen Zukunft lag. Das hypothetische Problem der "kaukasischen Überbevölkerung" im Verhältnis zum Weizen sollte chemisch gelöst werden, also systemstabilisierend: "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing". Der anderen, nach aussen projizierten "Überbevölkerung" sollte neben Kanonen und Bibeln auch der in menschliche Masse umgesetzte Weizen entgegengehalten werden. Mit diesem ideologischen Rüstzeug und der Hoffnung auf reichen Gewinn suchten einige Vertreter der "grossen kaukasischen Rasse" nach Ersatz für den Salpeter. Dass das zukünftige Geschäft mit Düngemitteln eine wichtige Triebkraft dafür war, ist zweifellos richtig. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte sich gezeigt, dass die Düngemittel-Produktion profitabel ist: den BäuerInnen konnten Produkte verkauft werden, die kurzfristig eine Ertragserhöhung brachten und dadurch zur Einrichtung von Monokulturen verführten - wenn dies aber geschehen war, war die Existenz von diesen Substanzen abhängig. Dass sich im Vergleich zu den bisher gebräuchlichen Düngemitteln dabei auch die Pflanzenqualität verschlechterte und Inhaltsstoffe wie Widerstandskraft abnahmen, kam der chemischen Industrie ebenfalls gelegen.
Doch noch schwerer als diese Gründe wogen wahrscheinlich die Befürchtungen eines Sprengstoff-Fabrikanten: "Bereits um die Jahrhundertwende hatte er die Gefahr erkannt, dass Deutschland von den Salpeterzufuhren aus Chile und damit von dem wichtigsten Material zur Herstellung von Sprengstoff abgeschnitten werden konnte." (17) So mehrfach motiviert, stürzten sich Wissenschaft und chemische Industrie auf dieses Gebiet, vor allem in Deutschland. Das war kein Zufall, denn einerseits hatte sich hier eine besonders aggressive chemische Industrie entwickelt, andererseits befand sich der Chilesalpeter in britischem Besitz und damit unter der Kontrolle eines imperialistischen Konkurrenten. Ohne Salpeter aber wären nicht nur die Welteroberungs-Pläne zerplatzt, sondern auch die Herrschaftsverhältnisse in Deutschland ins Wanken geraten.
Anfang dieses Jahrhunderts wurde das Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Ammoniak entwickelt und von der BASF (später Teil der 'IG Farben') auf Industriemassstab gebracht. Der Ammoniak wurde zu Dünger verarbeitet, und seitdem kann "der weisse Mann ... bis an das Ende seiner Tage beruhigt an seinem Weizenbrot kauen." (16) Ausserdem konnte der deutsche Mann im Ersten Weltkrieg jahrelang den Ammoniak verschiessen und versprengen sowie mit Hilfe des "Haber-Duisberg-Verfahrens" aus dem Hause 'Bayer' (später Teil der 'IG Farben') die ersten Chemiewaffen anwenden. Die "Bevölkerungsexplosion" dagegen war fürs erste abgesagt.
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In den Kriegs- und Friedenszeiten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wuchs die Eugenik in Europa und auch in den USA zur grösseren Bewegung heran. Eine Verstärkung ihrer theoretischen Basis hatte sie durch die damals schon jahrzehntealte Erbsenzählerei des Mönchs Gregor Mendel erhalten, die nach einer langen Zeit des Desinteresses zur Jahrhundertwende eine Renaissance erlebte. Darauf baute dann der neue Wissenschaftszweig der Genetik auf, der sich aus dem Garten Mendels über die Taufliege bis zum Menschen durcharbeitete. Die Ergebnisse der Genetik wurden allgemein so aufgenommen, wie dies noch immer in der Wissenschaft üblich ist: mit der Meinung, nun alles mögliche belegen zu können, was gerade belegenswert erscheint. Damals waren es gerade im reaktionärsten Zweig der Eugenik die Klassifizierung von störenden Eigenschaften, denen Erblichkeit nachgesagt wurde, beispielsweise "Pauperismus, Schwachsinn, Nomadentum, Faulheit und Erotismus" (18). Ausserdem wurden in diesem ideologischen Umfeld die Galton'schen "Klassen" zunehmend um den Begriff der "Rassen" erweitert, die ebenfalls in "Erwünschte", "Annehmbare" und "Unerwünschte" unterteilt wurden. In den USA führte dies dazu, dass sich einflussreiche EugenikerInnen sowohl für restriktive Einwanderungsbeschränkungen als auch für die Sterilisation von "Schwachsinnigen, geistig Behinderten, Epileptikern, Analphabeten, Armen, Arbeitsunfähigen, Kriminellen, Prostituierten, Rauschgiftsüchtigen" (in 19) einsetzten. Diese Aussage stammt von Margaret Sanger, die zur Gallionsfigur der reaktionärsten US-Eugenik geworden war.
In Deutschland gewann die Rassenhygiene, die Ende des 19. Jahrhunderts von Alfred Ploetz begründet worden war, an Boden. Der Arzt und Fabrikbesitzer Ploetz hatte zunächst eine kritische Phase durchlaufen: seiner damaligen Meinung nach ist Darwin "den privilegierten Klassen gradeso zurecht gekommen wie früher Malthus." (in 13) Wenige Jahre später verkehrte sich seine Auffassung ins Gegenteil: "In der Evolutionstheorie machte er sich vollkommen den Standpunkt von Malthus und Darwin zueigen, wonach die Konkurrenz um Nahrung und Lebensunterhalt das bestimmende Prinzip nicht nur der biologischen Evolution, sondern auch der gesellschaftlichen Entwicklung sei." (13) Ein zentraler Begriff bei Ploetz ist die "Ausjäte", die möglichst als "die ausmerzende Ausjäte der Keimzellen vor ihrer Vereinigung miteinander" (in 13) geschehen sollte, für existierende Menschen kämen dann andere Möglichkeiten in Betracht wie der Mord an Neugeborenen, die den rassehygienischen Vorstellungen nicht entsprechen oder die "Armuth mit ihrem ausjätenden Schrecken. Armen-Unterstützung darf nur minimal sein und nur an Leute verabfolgt werden, die keinen Einfluss mehr auf die Brutpflege haben. Solche und andere 'humane Gefühlduseleien' wie Pflege der Kranken, der Blinden, der Taubstummen, überhaupt aller Schwachen, hindern oder verzögern nur die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl." (in 13) Auch Kranken- und Arbeitslosenversicherungen stören den rassenhygienischen "Kampf ums Dasein", dagegen werden Kriege als "eines der Mittel im Kampf ums Dasein der Völker" (in 13) von der Rassenhygiene begrüsst, zumal dabei die Unerwünschten als "Kanonenfutter" Verwertung finden könnten. Kein Moment im Leben eines Menschen sollte unkontrolliert bleiben, auch der Tod nicht.
Die Rassenhygiene gewann in Deutschland durch die Förderung von massgeblichen Teilen der Grossindustrie an Popularität und wurde ab 1933 Staatsideologie. Das "Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses" war bereits im Jahr zuvor ausgearbeitet worden: "In dieser Sitzung ... erklärte einer der beiden anwesenden nationalsozialistischen Vertreter, dass das beabsichtigte Sterilisationsgesetz in der vorgeschlagenen Form 'in jeder südamerikanischen Negerrepublik' praktiziert werden könnte. Solchen Anschauungen entsprechend wurde dann nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 14. Juli 1933 ein Sterilisationsgesetz erlassen, das den nationalsozialistischen Gedankengängen entsprach und die zwangsweise Durchführung von Sterilisationen anordnete." (in 20) Betroffen waren Menschen, die den Kategorien "Erbkrank" (z.B. Schizophrenie, Epilepsie, Huntingtonsche Chorea oder erbliche Blindheit und Taubheit) sowie "schwerer Alkoholismus" zugeordnet wurden. Sterilisiert wurde nach einer Ausführungsverordnung, die besagte, dass "die Krankheit durch einen für das Deutsche Reich approbierten Arzt einwandfrei festgestellt ist, mag sie auch nur vorübergehend aus einer verborgenen Anlage sichtbar geworden sein." (in 21)
Die "auslesende" Bevölkerungspolitik wurde zwei Jahre später durch die "Nürnberger Gesetze" verschärft: das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" verbot Eheschliessung und aussereheliche Sexualität zwischen "Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes". Im gleichen Jahr wurde die Heirat zwischen "erbkranken" und "gesunden" Menschen verboten und die Zwangsabtreibung von Föten "erbkranker" Eltern angeordnet. Eugen Fischer, der damalige Direktor am 'Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik', dankte daraufhin der "Führung" dafür, dass er und seine KollegInnen nun "ihre Forschungsergebnisse dem Volksganzen praktisch dienstbar" (in 21) machen konnten.
Ab Kriegsbeginn wurde dann die "ausmerzende" Bevölkerungspolitik als letzte Konsequenz der Eugenik namens Rassenhygiene systematisch praktiziert. Die auf den 1. September 1939 rückdatierte "Euthanasie-Ermächtigung" Hitlers mündete schliesslich in den staatlich geplanten und durchgeführten Massenmord. "Was mit der Ausmerzung von angeblich lebensunwerten Kranken, Alten, Behinderten begann, endet mit dem Holocaust. Die Krankenmörder stellten nicht nur das Personal, sondern vor allem die Mordmethode: die Gaskammern, die als Duschräume getarnt sind. Was auch immer bei der 'Judenvernichtung' geschah, war dem Krankenmord abgeschaut." (22) Das rassenhygienische 'Kaiser-Wilhelm-Institut' steuerte dazu seine Ideologie bei und erhielt aus Auschwitz Blut, Gewebe und Organe von Menschen, die gezielt zu diesem Zweck ermordet worden waren. Massgebliche Beteiligte dieser Tätergemeinschaft waren Ottmar v. Verschuer, der 1942 Fischers Nachfolger als Institutsdirektor geworden war und sein Assistent Josef Mengele, Arzt in Auschwitz. (13, 23)
Betroffen von "auslesender" und "ausmerzender" Bevölkerungspolitik waren Menschen, deren Leben als "unwert" oder "minderwertig" klassifiziert wurde. "Die Grenzen der als 'minderwertig' abgestempelten Menschen umfassten immer mehr Menschen. Schon daraus lässt sich erkennen, dass mit den aus medizinischen Gründen 'unerwünschten' Nachkommen immer auch die aus politischer Sicht 'Störenden' gemeint sind. Die Herangehensweise mit der rein biologischen Argumentation erfüllt nur den Zweck, die Gemeinschaft der Unerwünschten zu spalten." (24)
Weite Teile der Wissenschaft stützten die Greueltaten, manche aus Opportunismus, andere, weil die Ideologie ihren Überzeugungen entsprach. Die Ärzteschaft wurde zum Berufsstand mit dem bei weitem höchsten Prozentsatz an Nazis - 45% wurden Mitglieder der NSDAP. (23) Der "heute als einer der Säulenheiligen einer ganzheitlichen Medizin" (10) verehrte Viktor von Weizsäcker dozierte 1933: "Der Staat ist es, der die Frage nach dem Erhaltenswürdigen stellt und welcher seiner eigenen Entscheidung Geltung verschafft ... Es wäre illusionär, ja es wäre nicht einmal fair, wenn der deutsche Arzt seinen verantwortlichen Anteil an der notgeborenen Vernichtungspolitik glaubte nicht beitragen zu müssen. An der Vernichtung unwerten Lebens oder unwerter Zeugungsfähigkeit, an der Ausschaltung des Unwerten durch Internierung, an der staatspolitischen Vernichtungspolitik war er auch früher beteiligt." (in 10) Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch führte ebenfalls 1933 das "Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat" (in 23) an. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, dem später für seine Gänseforschung der Nobelpreis verliehen wurde, empfahl 1940 in "der Gewissheit, der 'Einzelmensch' sei 'so gut wie nichts', dagegen 'Rasse und Volk alles' ... das 'Ausmerzen' von Menschen und konnte noch vier Jahrzehnte später überzeugt sein, es sei in wissenschaftlicher Fürsorgepflicht um die 'biologische Vollwertigkeit des Menschen' geschehen." (10)
Die internationale Eugenik zeigte sich von den Gedanken und Taten ihres deutschen Zweiges jedoch auch nach den Nürnberger Prozessen nur mässig erschüttert. Sie beschränkte ihre Reaktion vor allem darauf, die konsequente Praktizierung ihrer Lehre als "unwissenschaftlich" zu bezeichnen und ging dann wieder zur Tagesordnung über. Die schöne neue Nachkriegswelt bot ihr auch zuviel Stoff zum Nachdenken, als dass Vergangenenes noch interessant genug erschien. Da gab es neue Ideen wie die von der "genetischen Bürde" eines jeden Menschen und dann noch die Atomwaffen, die durch zusätzliche Mutationen zur Erhöhung dieser "Bürde" führen würden. Gleichzeitig waren die Techniken zur Erfassung der "Bürde" in greifbare Nähe gerückt, als Fernziel lockte deren Eliminierung. In dieser erwartungsvollen Situation taten sich VertreterInnen von Eugenik und Genetik mit ihren deutschen Kollegen von der Rassenhygiene zusammen, denen sie gerade noch "Unwissenschaftlichkeit" vorgeworfen hatten. Ihre gesammelten Erkenntnisse flossen dann in die neue Disziplin Humangenetik (an deren Aufbau in der BRD massgeblich beteiligt: v. Verschuer) ein, die gerade jetzt mit immer neuen zeitgemässen Überraschungen ("Arbeitslosen-Gen", "Schwulen-Gen" etc.) aufwartet. Wie früher wird versucht, sozial bestimmten Verhältnissen oder Eigenschaften ein individuell ererbbares, "natürliches" Korrelat zuzuordnen und so medizinisch erklär- und behandelbar zu machen.
In den USA war für die Gen-EnthusiastInnen in der Nachkriegszeit eine neue Situation entstanden, denn der Aufstieg des Landes zur Supermacht führte bei ihnen, im Windschatten von Politik und Wirtschaft, zur Erweiterung der Perspektiven. Endlich waren die USA dort, wo sie ein Senator schon 1898 hinhaben wollte: "Amerikanische Fabriken stellen mehr her, als das amerikanische Volk konsumieren kann. Amerikanischer Boden produziert mehr, als wir brauchen. Das Schicksal schreibt uns unsere Politik vor: der Welthandel muss und wird unser sein ... Grosse Kolonien werden um unsere Handelsposten entstehen, die sich selbst regieren werden, aber unter unserer Flagge und im Handel mit uns. Amerikanisches Gesetz, amerikanische Ordnung, amerikanische Zivilisation und die amerikanische Fahne werden an Küsten dominieren, die bis heute blutend und unterdrückt sind, aber dank unserer Vertreter und mit Hilfe Gottes einer schönen und glänzenden Zukunft entgegengehen." (in 25) Die bisher von den USA "Befreiten" waren allerdings nach wie vor so "blutend und unterdrückt" wie vorher, und auch viele von denen, die jetzt dran waren, erwartete eine entsprechende "schöne und glänzende Zukunft". Die immensen Produktionsüberschüsse der USA nach dem Zweiten Weltkrieg waren eben nicht als Geschenk für die zu "Befreienden" des Trikonts vorgesehen, ebensowenig ein gerechter Anteil am "Welthandel", um etwas davon zu kaufen. Der Eugenik bot sich dadurch unter Rückbesinnung auf ihren Ahnherren ein stabiles Betätigungsfeld, denn die Armut sollte bleiben, auch in den reichen USA selbst.
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Dort wurde Malthus in der Mitte dieses Jahrhunderts wiedererweckt: "Sechs Generationen sind vergangen, seit Malthus das Problem jener, die in Not leben, aufzeigte ... Doch im Jahre 1950 ... wagt der Kongress der Vereinigten Staaten zum Problem des vergessenen Drittels des Volkes nur folgendes zu sagen: 'Die Ursachen der Armut sind vorhanden und können gesucht und gefunden werden.'" (2) Damit aber nicht an der richtigen Stelle gesucht wurde, intensivierten altgediente EugenikerInnen wie Margaret Sanger ihre Arbeit.
Ferner strebte die US-Eugenik wie schon ihr Begründer Galton die Produktion von "Individuen vom besten Schlag" an und sorgte sich zusammen mit ihren transatlantischen KollegInnen um den kapitalistischen Teil der Welt: "In den Vereinigten Staaten, in England und jedem westlichen Land laugt die falsch angebrachte und schlecht verteilte menschliche Vermehrung die angeborenen Qualitäten der Kinder von morgen aus ... In England hat eine Kommission von Soziologen und Bevölkerungswissenschaftlern diese Seite des Fruchtbarkeitsproblems studiert. Ihr Bericht von 1950 kam zu dem Schluss, dass der durchschnittliche Intelligenzquotient des britischen Volkes in jeder Generation etwa um zwei Punkte absinke. Dieselbe Formel trifft auch für die Vereinigten Staaten zu, wo die Fachleute eine ähnliche Abnahme für 'so sicher wie das Amen in der Kirche' halten. Wenn diese Entwicklung anhält, werden England und Amerika in weniger als einem Jahrhundert durchaus auf dem Weg sein, Nationen von Halbidioten zu werden." (2) Den alten Streit um die Intelligenz (wegen der Fra-gen: angeboren? anerzogen? überhaupt messbar?) hatte die Eugenik erstmal wieder für sich entschieden (mit ihren Antworten: hauptsächlich! kaum! na klar!).
Darüber hinaus begannen insbesondere die US-EugenikerInnen damit, ihre Aktivitäten zu globalisieren. Sie betrachteten die Welt und sahen typischerweise an vielen Orten eine malthusianische "Bevölkerungsexplosion": "Nächst der Atombombe ist heute die unkontrollierte Fruchtbarkeit die unheilvollste Kraft der Welt. Unausgeglichene und unkontrollierte Fruchtbarkeit verwüstet viele Länder wie ein Orkan oder eine Sturmflut. In Portorico, Ägypten, Indien, Italien und Japan hat die zügellose Fruchtbarkeit mehr hungrige Mäuler hervorgebracht, als gestopft werden können." (2) Damals waren eben diese Länder für die US-Interessen aktuell besonders interessant und problematisch. In Puerto Rico (das in den USA notorisch "Portorico" geschrieben wird) beispielsweise wurde zu dieser Zeit der Rest an Ressourcen an US-amerikanische Unternehmen verschleudert. Gleichzeitig wurde die Sterilisationskampagne an puertoricanischen Frauen, die 15 Jahre vorher begonnen worden war, intensiviert und ein Aufstand der InselbewohnerInnen blutig niedergeschlagen. (19, 25) Ein weiteres Beispiel ist Italien, wo in Teilen des Landes die Befreiung vom Faschismus aus eigener Kraft gelungen war, und wo die Alliierten nach der Invasion die Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse betrieben hatten. Nur mit erheblichen Anstrengungen gelang es den USA in der Folgezeit, die starke kommunistische Partei aus der italienischen Regierung herauszuhalten. Schliesslich war der Kommunismus das letzte, was erwünscht war, sei es in Italien oder anderswo. Aus bevölkerungspolitischer Sicht bestand die Sorge darin, dass auch anderenorts das geschah, was der Sowjetunion nachgesagt wurde, nämlich "die Welt mit kommunistischen Säuglingen zu überschwemmen." (2) Dieses Thema wurde später, besonders während des zweiten Indochina-Krieges, von BevölkerungspolitikerInnen mit anderen Ländern variiert (Stichwort "gelbe Gefahr").
In den 1950ern setzten sich vermehrt Teile der Industrie an die Spitze der Bewegung, vor allem in Form der Rockefellers und des Pappbecher-Erfinders Hugh Moore. Unterstützt wurden sie von Repräsentanten aus Wissenschaft und Militär, zeitlich verzögert liessen sich Berufs-Politiker zur Mitarbeit bewegen. Moore hat sich besonders durch seine dumm-dreiste Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit hervorgetan. Zu seinem hartnäckigen Vermächtnis gehört der Begriff "Bevölkerungsbombe", den er in den 1950ern kreieren liess. Die Rockefellers dagegen legten schon immer Wert darauf, als seriös zu gelten und gaben sich eher wissenschaftlich. Teilweise gemeinsam, teilweise einzeln konnten diese starken Gruppen ihren Einfluss ausbauen und weitere Unterstützung gewinnen. Von den USA aus führte der Weg weiter in einzelne Ziel-Länder (wie die oben aufgezählten) und zu Verbündeten in den Metropolen. Der grosse Sprung gelang in den 1960ern, als sich die UNO des Themas annahm. Seitdem wurde auch die Öffentlichkeit immer hartnäckiger und erfolgreicher bearbeitet, besonders zeitgleich zu den Mammut-Bevölkerungskonferenzen. Zur ersten im Jahre 1974 wurde in den USA in der etablierten Presse dann wieder behauptet: "BEVÖLKERUNGSEXPLOSION UND LEBENSMITTELVERKNAPPUNG: WELT VERLIERT KAMPF UM LEBENSWICHTIGES GLEICHGEWICHT" - "WELTERNÄHRUNGSKRISE: LEBENSQUALITÄT VOR UMWÄLZUNG DURCH CHRONISCHE VERKNAPPUNGEN" (in 11).
Nicht in den Schlagzeilen erschien dagegen, dass die 'Food and Agriculture Organization' (FAO) der UNO etwa zur gleichen Zeit Ländern des Trikonts vorschlug, das "Überschuss"-Getreide der "Grünen Revolution" als Viehfutter zu verwenden, während dort gleichzeitig Menschen hungerten. Auch durch die Nachfrage nach Viehfutter wurden das Produktionsmittel Land und das Grundnahrungsmittel Getreide zu Spekulationsobjekten und dadurch einer allgemeinen Nutzung entzogen. So ist die Zusammenfassung der 'International Labor Organization' der UNO nur scheinbar paradox: "Die Zunahme der Armut hängt nicht mit einem Fallen, sondern mit einer Steigerung der Getreideproduktion pro Kopf, dem Hauptbestandteil der Nahrung der Armen, zusammen." (in 11) Der vordergründige Sinn in den Zeitungs-Schlagzeilen dagegen erweist sich als Un-Sinn.
Etwa gleichzeitig zur ersten Mammut-Weltbevölkerungskonferenz erfuhr Malthus eine Verjüngung und die Grundlinie der Diskussion eine Verfeinerung, als die Ökologie sich zu den Punkten Menschen und Nahrung gesellte. Der Anstoss dazu kam Anfang der 1970er (als sich immer mehr Menschen ihre eigenen Gedanken über die Vernutzung der Natur zu machen drohten) vor allem vom 'Club of Rome'. Dies geschah durch die Schrift "Die Grenzen des Wachstums", die allenthalben wegen ihrer angeblich kritischen Analyse hochgelobt wurde. Dass auch sie ein Industrieprodukt war, wurde über der Betroffenheit meist nicht zur Kenntnis genommen. Die Finanzen stammten von 'Volkswagen', 'Fiat' und 'Ford', die das 'Massachussetts Institute of Technology', eine industrieverbundene Bastion der orthodoxen Wissenschaft, mit der Durchführung der Studie beauftragten. Die fiel dann dementsprechend aus: wirtschaftliche Faktoren wurden nicht in die Computer eingegeben und gingen somit auch nicht in das Resultat ein. Ausgerechnet die Ökonomie sollte also so bleiben, wie sie war, obwohl gerade sie besonders änderungsbedürftig ist und den stärksten Einfluss auf die Umwelt hat. Stattdessen wurde die Forderung nach mehr Bevölkerungspolitik erhoben. Insgesamt waren die "Grenzen des Wachstums" eine Aufarbeitung alter Wahrheiten (dass die Erde nicht unendlich ausbeutbar ist, war lange bekannt) und alter Falschheiten (dass eine "Bevölkerungsexplosion" die Umwelt zerstört). Dies war ein Rückschritt, aber ein so gut verpackter, dass er als Fortschritt deklariert werden konnte.
Ein weiteres Produkt dieser Art erschien knappe zehn Jahre später mit "Global 2000". Das war ein "Bericht an den Präsidenten" Carter, der für dessen Wahlkampf 1980 rechtzeitig fertiggeworden war, ihm aber dann doch nicht zum Sieg verhelfen konnte. Gelobt wurde der Wälzer wie schon sein Vorgänger, obwohl er analytisch nichts wirklich Neues aufzuweisen hatte. Ein Beispiel für den Ansatz: "Schon heute haben die Bevölkerungen Afrikas südlich der Sahara und im asiatischen Himalaya die Belastbarkeit ihrer unmittelbaren Lebensräume überschritten, was die Möglichkeiten des Landes, das Leben der auf ihm wohnenden Menschen zu sichern, zunehmend einschränkt. Die daraus resultierende Armut und der schlechte Gesundheitszustand haben die Bemühungen um Geburtenkontrolle zusätzlich erschwert. Wenn dieser Zirkel eng miteinander verknüpfter Probleme nicht bald aufgebrochen wird, dann wird sich das Bevölkerungswachstum in diesen Gebieten leider aus anderen Gründen als dem Rückgang der Geburtenraten verlangsamen. Hunger und Krankheit werden das Leben von mehr Babys und Kleinkindern fordern, und eine grössere Zahl der Überlebenden wird infolge von Unterernährung in der Kindheit geistig und körperlich behindert sein." (26) Wie gehabt, wurden die Opfer zu TäterInnen umdefiniert, während die eigentlich Schuldigen konsequent unbenannt blieben (schliesslich waren einige von ihnen an der Herstellung von "Global 2000" beteiligt).
Die "Grenzen des Wachstums" und "Global 2000" haben nicht nur die ökologische, sondern auch die Bevölkerungspolitik- und die Nahrungsmittelproduktions-Diskussion kanalisiert. Ergänzt wird dies durch einen weiteren Bestseller des 'Club of Rome' sowie durch die Debatte um die "nachhaltige Entwicklung" (s. Zaire-Artikel). Direkt oder indirekt sind alle US-Produkte, und: "Wenn Uncle Sam als Mr. Saubermann auftritt, wird die Umweltkrise bestimmt Profit abwerfen." (27) Diese mehr als 20 Jahre alte Voraussage hat sich inzwischen für die USA und andere Industriestaaten bewahrheitet. Es ist ein "ökologisch-industrieller Komplex" (27) entstanden, der mit Profit die Umwelt zerstört und dann an der technischen "Reparatur" noch einmal verdient. Wenn dies immer noch nicht genug Gewinn abwirft, werden völlig überflüssige Technologien auch noch "nachhaltig" vermarktet: "Neue Hoffnung bietet Spitzentechnologie wie die Raumfahrt. So wird im Senegal versucht, mit Satellitenfotos nach nutzbarem Land unter den Sanddünen zu suchen." (Frankfurter Rundschau 17.10.94) Dass als ein Grund für die Bodenerosion "von Experten das Bevölkerungswachstum" (FR) genannt wird, lässt vermuten, dass auch die Bevölkerungspolitik als Bodenschutz-Massnahme Anwendung finden wird. Die Öko-Ökonomie hat sicher noch einige weitere Überraschungen parat. Wie der Leiter der Rio-Konferenz 1992, Maurice Strong, bemerkte: "Die Ökologie wird in den nächsten Dekaden die Geschäfte dominieren." (ProWo Februar 92) Er wird es schon wissen, wurde er doch in den USA im gleichen Jahr zum "Geschäftsmann des Jahres" gewählt (Earth Times 1.12.92).
Mit der Einbeziehung der Ökologie in die bevölkerungspolitische Diskussion flossen einige der fast zweihundert Jahre alten Ansätze des Marquis de Condorcet in das Konzept ein. Zwar geschah dies wohl kaum in seinem Sinne, da er davon ausgegangen war, dass sein Massnahmenbündel als Mittel gegen Nahrungsknappheit angewandt werden sollte. Nun wurde es aber in einer Situation der Überproduktion eingesetzt, und das auch noch von Gruppierungen, die es in seiner Utopie schon gar nicht mehr gab: "Es kommt der Tag, da die Sonne nur noch auf eine Welt freier Menschen herabscheint, die keinen Herren anerkennen als die eigene Vernunft. Dann werden Tyrannen und Sklavenpriester und ihre verdummten Werkzeuge nur noch in der Geschichte oder auf der Bühne vorkommen." (in 3) Dieser zentrale Punkt Condorcets wurde zwar nicht übernommen, aber losgelöst davon wurden Details wie die Abfallvermeidung und die Lebensmittelkonservierung als angeblich neue Forderungen formuliert. Später gesellte sich auch die Ausbildung, besonders die der Frauen dazu, die Forderung nach Produktionszuwächsen ist ohnehin immer dabei. Mit diesem "kollaborativen" Modell la Condorcet sollen nun, wie vor fast zweihundert Jahren erdacht, Geburtenraten gesenkt werden, alternativ und ergänzend dazu wird das "autoritäre" malthusianische Modell mit gleichem Ziel eingesetzt (6). Der moderne bevölkerungspolitische Ansatz schwankt zwischen beiden hin und her, bevorzugt mal das eine, mal das andere Modell und vermischt sie miteinander. Doch welcher Schwerpunkt auch immer gewählt wird, stets ist es Malthus, auf den sich die BevölkerungspolitikerInnen namentlich berufen.
Der ist durch ständige Namenswiederholung bekannt und angesehen wie nie zuvor. Daran beteiligt ist selbstverständlich auch der "philanthropische" Arm der Industrie: "'Es ist bereits bewiesen, dass Malthus recht hat', erklärt ... der Präsident der Rockefellerstiftung." (in 11) Diese Behauptung überrascht aus einer solchen Ecke nicht. Doch stimmt beispielsweise auch 'Greenpeace' im hauseigenen Magazin der Malthus-Analyse zur Menschen- und Nahrungsmittelvermehrung prinzipiell zu und attestiert dem staatstragenden Geistlichen, dass er zunächst unverschuldet unrecht hatte, denn "unvorhersehbare Fortschritte in der Landwirtschaft widerlegten Malthus für die Dauer von 200 Jahren. Heute hat sich das Blatt gewendet. Seit kurzem kann die Zuwachsrate der Nahrungsproduktion nicht mehr mit der immer schnelleren Zunahme der Hungrigen mithalten." (28) Malthus ist offensichtlich wieder "in".
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Fast zweihundert Jahre nach seinem "Bevölkerungsprinzip" gibt dies noch immer die herrschende Grundlinie der Diskussion vor: Menschen werden gegen Nahrung aufgerechnet. Diese Linie spiegelt die Interessen der jeweils Besitzenden (erst Adel, dann Industrie) wider, die die Vorschläge ihrer ideologischen Stützen (erst Klerus, dann Wissenschaft) aufgenommen haben. Damit wurde systemverändernden Ansätzen (analog Godwin oder Condorcet) begegnet - und noch immer sind die politischen Pole prinzipiell dieselben wie vor zwei Jahrhunderten. Dass das "Bevölkerungsprinzip" über diesen langen Zeitraum immer wieder von neuem hervorgeholt wurde, zeigt an, dass es sich als ein nützliches Instrument erwiesen hat.
Es erfüllt zunächst einmal die Funktion, den Opfern die Schuld an ihren Problemen zu geben und die Schuldigen zu entlasten. Dass dies gerade in besonders krassen Umbruchzeiten gern angewandt wird, dürfte kein Zufall sein. Diese Perioden charakterisiert einerseits, dass in ihnen die Herrschenden (oder Teile von ihnen) eine neue Verschärfung der Umverteilung zu ihren Gunsten anstreben, die auf der anderen Seite Opfer und Widerstand dagegen hervorbringt. Stehen sich die Interessensgegensätze so krass gegenüber, wird für Machterhalt und -erweiterung neben anderem das Instrument der Täuschung angewandt, die auch in Gestalt der Malthus-Theorie daherkommt.
Hier geht es vor allem um die Armut, um die Täuschung über ihre Ursachen und ihre Überwindung. Die Armut kann entweder grundsätzlich angegangen werden (was eben gerade nicht gewollt ist), versteckt werden (was meist und besonders in Krisenzeiten praktisch unmöglich ist) oder Objekt der Gewalt werden, deren "sanfte" Version auch die Täuschung beinhaltet:
"Täuschung ist transzendentierte Wirklichkeit und sollte nicht mit Fälschung verwechselt werden. Im Gegensatz zur Fälschung, die billige und leicht identifizierbare Surrogate von Wirklichkeit herstellt, bezieht sich die Täuschung auf die wirkliche Welt. Sie schmarotzt bei Tatsächlichkeit, übersteigt diese jedoch und stellt sie in einen anderen Sinnzusammenhang, der für das zu täuschende Publikum ebenso wirklich ist wie die dahinter verborgenen Tatsachen. Der Gegenstand der Täuschung selber bleibt unverändert. Verändert wird das Bewusstsein des Getäuschten. Fremdes Bewusstsein dringt ein und macht sich breit. Eine nicht diagnostizierbare Form von Wahn entsteht." (29)
Der Sieg des "fremden Bewusstseins" im eigenen Kopf besteht in der Akzeptanz der Verhältnisse und in der Übernahme der Wertvorstellungen, von Verhaltensnormen bis zum Glauben an den übergeordneten Wert des Geldes. Wer dieses Denken übernommen hat, hat sich schon in Richtung einer Ideologie bewegt, die auch über Menschen Kosten-Nutzenrechnungen anstellt und diejenigen, die "sich nicht rechnen", quasi zu Wirtschaftskriminellen erklärt. Das "Bevölkerungsprinzip" und seine Nachfolge-Theorien können innerhalb des ideologischen Täuschungs-Instrumentariums dazu beitragen, eben dies in den Köpfen zu verankern. Sie können Menschen dazu bringen, ihr Leben nicht nach eigenem Ermessen zu gestalten, sondern ihre Entscheidungen angeblich höheren Interessen oder vorgeschobenen Sachzwängen unterzuordnen und dies darüber hinaus auch noch von anderen zu fordern.
Zielgruppe der Täuschung über die Armut sind zunächst die Menschen, die sich selbst in der Rolle von ZuschauerInnen sehen: die Mehrheit in den Metropolen und eine Minderheit im Trikont. Ihrem Bedürfnis nach Entsolidarisierung und Nicht-Nachdenken über die eigene Einbindung in die armutsverursachenden Strukturen kommt diese Täuschung sehr entgegen. Ein aktuelles Beispiel für die Herstellung eines solchen falschen Sinnzusammenhangs bei dieser Zielgruppe ist die Interpretation des Aufstands im mexikanischen Chiapas durch den 'Spiegel' (7/95): nicht an den "ungerechten Wirtschaftsstrukturen", sondern an "der Verdreifachung der Bevölkerung" liege es, dass die Menschen arm sind. Gelingt eine solche Täuschung, führt dies bei den Getäuschten nicht nur zur Übernahme der Forderung nach einer Begrenzung der Kinderzahl der Armen, sondern auch zur Unterstützung jener Herrschaftsstrukturen, die Ausbeutung und Unterdrückung immer wieder von neuem produzieren.
Eine weitere Zielgruppe sind diejenigen Menschen, die über die Ursachen ihrer eigenen Situation getäuscht werden sollen. Wenn sie dann glauben, keine oder wenige Kinder würden ihnen eine Verbesserung ihres Lebens bringen, sind sie zu den "freiwilligen" Objekten der Bevölkerungspolitik geworden. Viele bevölkerungspolitische Programme verhelfen der Ideologie "wenige Kinder = besseres Leben" durch Sanktionen (z.B. Geldstrafen für eine Kinderzahl oberhalb einer gesetzten Norm), durch Erpressung (z.B Kreditvergabe nur bei "Familienplanung") oder durch andere "Sachzwänge" (z.B. Schulgeld) sogar zu einer gewissen Realität.
Diese Massnahmen einer erzwungenen Bevölkerungspolitik zielen auf diejenigen Menschen, die sich die Malthus-Ideologie nicht zu eigen gemacht haben und den ihnen zugedachten Platz im Verwertungssystem nicht einnehmen wollen oder können oder die gegen ihre Armut aufbegehren. Die Massnahmen richten sich sowohl gegen die zukünftigen Kinder als auch gegen die bereits lebenden Menschen selbst. Sie können neben dem mehr oder minder direkten Zwang zu Verhütungsmitteln auch die Vertreibung (Abschiebung, Umsiedlung), das Töten und das Sterbenlassen beinhalten, also Gewalttaten mit letztlich bevölkerungspolitischen Zielen.
Im Gegensatz zu neueren Versionen des "Bevölkerungsprinzips", die alle BewohnerInnen eines ganzen Landes, eines gesamten Kontinents, wenn nicht die gesamte Menschheit zur "Gefahr für den Planeten" erklären, beruhen konkrete bevölkerungspolitische Massnahmen also auf Spaltung. Sie richten sich gegen bestimmte Menschengruppen, wobei Frauen immer in besonderem Masse betroffen sind. Diese Gruppen werden von den jeweils herrschenden Interessen definiert und stören ganz allgemein die von ihnen betriebene "Modernisierung". Diese Störung kann darin bestehen, auf dem Boden zu leben, der einer anderen Nutzung zugeführt werden soll, wie landwirtschaftlichen, industriellen oder infrastrukturellen Grossprojekten; zu einem von der politischen Macht völlig ausgeschlossenen Teil der EinwohnerInnen eines Landes zu gehören, der als Gesamtheit potentiell eine Gefahr für die Regierung darstellt; Mitglied einer Minderheit zu sein, die auf ihren nicht verwertbaren Gewohnheiten besteht; oder einfach zu arm zu sein, um als KonsumentInnen ins Gewicht zu fallen. Letztere sind zahlreich und bewegen sich zwischen unqualifizierter Arbeit und Arbeitslosigkeit. Der wirtschaftsstrategische Blick auf sie sieht eine gesichtslose Verschiebemasse, die mehr als ausreichend gross ist und daher als Opfer bevölkerungspolitischer Massnahmen freigegeben ist.
Bei der Bevölkerungspolitk spielen neben der Schaffung einer für die Wirtschaft günstigen Infrastruktur (einschliesslich des angepassten "Humankapitals") auch sehr konkrete kommerzielle Interessen eine Rolle. Offensichtlich ist die Vermarktung der neuen Verhütungsmitteltechnologie, die in den 1950ern gerade mit der "Pille" ihr erstes Massenprodukt fertiggestellt hatte. Ein Markt in den Metropolen war prinzipiell vorhanden, der Trikont musste für solche Produkte erschlossen werden. Dazu gehörte die Ausschaltung der Konkurrenz der traditionellen Verhütungsmethoden und die Weckung des Bedürfnisses nach den neuen Mitteln. Die "Produktwerbung" für die Metropolen-Verhütungsmittel mittels abgestuften Zwanges und entsprechenden Reklameslogans ("Viele Kinder machen euch arm" oder ähnliches) wurde (und wird) hauptsächlich von der staatlichen "Entwicklungshilfe" durchgeführt. Mit öffentlichen Geldern wurde das gekauft, was die metropolitane, in den meisten Fällen die US-Industrie anzubieten hatte und mit den unterschiedlichsten Methoden auch bei einem zunehmenden Teil der trikontinentalen Kundschaft durch- und absetzen konnte. Manche dieser so in grossem Massstab getesteten Mittel fanden dann ihren Weg zurück in die Metropolen.
Ein weiteres kommerzielles Interesse ist weniger offensichtlich, aber ebenfalls sehr wichtig. Waren es vor einem knappen Jahrhundert Düngemittel (und Sprengstoff), die mit Hilfe der "Bevölkerungsexplosion" auf den Weg gebracht werden sollten, geht es auch jetzt um Produkte der agrochemischen Industrie (teilweise ebenfalls mit militärischem Hintergrund). Die derzeitige bevölkerungspolitische Kampagne, die nun schon fast fünfzig Jahre alt ist, diente seit ihren Anfängen auch dazu, Saatgut, Pestizide, Dünger und damit verbunden die "Grüne Revolution" zu vermarkten. Das dazugehörige Werbemotto war die Prophezeiung einer "Bevölkerungsexplosion", für die, wie einst von Malthus postuliert, die Nahrungsmittelproduktion bald nicht mehr ausreichen würde. Diese Vorgaben nahmen US-Industrielle (namentlich Rockefeller und Ford) auf, die nicht nur bevölkerungspolitisch äusserst aktiv wurden, sondern zeitgleich die "Grüne Revolution" in die Welt setzten. Der "Wunderweizen", die erste Nutzpflanze dieser "Revolution", war von der 'Rockefeller Foundation' in den 1940ern in Mexiko entwickelt worden. Die Pestizide waren zum grössten Teil Ergebnis der Kriegsforschung derselben Zeit und sollten danach nicht nur dem Militär ("Agent Orange", Organophosphat-Nervengase etc.), sondern auch den ZivilistInnen verkauft werden. Der Dünger war ebenfalls ein Produkt der "Rüstungs-Konversion": der Rest an synthetischen Stickstoffverbindungen, die während des Zweiten Weltkriegs zum Schiessen und Sprengen in grossen Mengen hergestellt worden waren, wurde in der Nachkriegszeit zu Düngemitteln verarbeitet. Die kriegsbedingte Überproduktion dieser beiden Chemieprodukte überschwemmte also den Landwirtschafts-Markt, der weiter ausgedehnt werden musste, um die Herstellungskapazitäten auszulasten und zu erweitern.
Wie der Dünger waren die Pestizide für das Gedeihen des neuen Saatgutes notwendig, das angeblich die Hungernden der "Bevölkerungsexplosion" ernähren sollte. Doch die waren in diesem Zusammenhang lediglich Teil der Werbestrategie für die Industrie, die die Nutzniesserin der "Grünen Revolution" sein sollte und auch wurde: "Die vorgeblich zum Wohle der Entwicklungsländer eingerichteten internationalen Landwirtschaftsforschungszentren haben bislang hauptsächlich Milliarden-Gewinne für die Agrar-Multis in den Industriestaaten abgeworfen ... Genplasma des 'Internationalen Zentrums für die Verbesserung von Mais und Weizen' in Mexiko zum Beispiel, repräsentiert einen jährlichen Input von 2,7 Milliarden Dollar für die Landwirtschaft entwickelter Länder. 'Damit erhalten die Industriestaaten das Hundertfache dessen zurück, was sie jährlich in das Zentrum investieren'". (Frankfurter Rundschau 27.10.94) Die feministische Ökologin Vandana Shiva aus Indien, einem der Haupt-Zielländer der "Grünen Revolution", beschreibt sie "als die 'weltweite Vernichtung eines in vier- bis fünftausend Jahren gewachsenen Wissens der Frauen über die Landwirtschaft durch eine Handvoll weisser, männlicher Wissenschaftler in weniger als 20 Jahren'. Die Vernichtung 'ging Hand in Hand mit der ökologischen Zerstörung der Naturprozesse und der ökonomischen Vernichtung der ärmeren Menschen in ländlichen Gebieten.'" (in 5) Die Industrie behauptet trotzdem nach wie vor, die "Grüne Revolution" sei eine Wohltat für die "explodierende" Menscheit und will neuerdings mit demselben Argument die Gentechnik verkaufen. Doch auch jetzt werden wieder Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weil aus der zunehmend kapitalintensiven Landwirtschaft ausgeschlossen werden. Als "Überbevölkerung" werden sie dann wiederum Teil der Propaganda für die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft und ausserdem Ziel bevölkerungspolitischer Massnahmen.
Die Hinzunahme der Ökologie in die Diskussion um Menschen und Nahrung hat sie modernisiert, in bevölkerungspolitischer Hinsicht aber zu keiner Änderung geführt, denn als Resultat blieb die Forderung nach weniger Menschen bestehen. Die Umwelt wurde in diesem Zusammenhang zu einem neuen Mangelfaktor, angeblich durch die "Bevölkerungsexplosion", nicht jedoch durch Konzerne oder Staatseinrichtungen wie das Militär, die die Wälder abholzen, riesige Flächen einer landwirtschaftlichen Nutzung entziehen, Luft und Wasser verschmutzen. Statt dies zu thematisieren, wird seit den Anfangstagen des 'Club of Rome' zunehmend die "Bevölkerungsexplosion" als ökologische Gefahr genannt. So setzte sich Bernhard Grzimek durch einen Stempel auf seinen Briefbögen für eine Verminderung der menschlichen Nachkommenschaft ein, um die Serengeti zu retten; spielt der Herzog von Edinburgh in seinen Funktionen beim 'World Wildlife Fund' und 'Population Concern' Menschen gegen Tiere aus; ist bei 'Greenpeace' zu lesen: "Wenn nicht gehandelt wird, könnten schon morgen Öko-Diktatoren an die Macht gelangen, die mit dem Slogan 'Das Boot ist voll' eine Eindämmung des Bevölkerungswachstums um jeden Preis verordnen. Oder aber die Natur entledigt sich ihres Ausbeuters Mensch von ganz allein." (28)
Die bevölkerungspolitische Ökologie lässt sich auch mit anderen zunehmend beliebter werdenden Zutaten zusammenwürfeln: "In einer Weise errichtet die Erde eine Immunantwort gegen die menschliche Spezies. Sie beginnt, auf den menschlichen Parasiten zu reagieren, die flutende Infektion von Menschen, die toten Flecken aus Beton überall auf dem Planeten, die krebsartigen Fäulnisstellen in Europa, Japan und den Vereinigten Staaten, dick von sich reproduzierenden Primaten, die Kolonien, die sich vergrössern und verbreiten und drohen, die Biospäre mit Massenvernichtung zu erschüttern. Vielleicht 'mag' die Biospäre die Idee von fünf Milliarden Menschen nicht. Oder es könnte auch gesagt werden, dass die extreme Ausdehnung der menschlichen Rasse, die erst ungefähr in den letzten hundert Jahren geschehen ist, plötzlich eine grosse Menge Fleisch produziert hat, das überall in der Biospäre sitzt und nicht fähig sein könnte, sich gegen eine Lebensform zu wehren, die es vielleicht verzehren möchte. Die Natur hat interessante Arten, sich auszubalancieren. Der Regenwald hat seine eigene Verteidigung. Das Immunsystem der Erde, um es so zu sagen, hat die Anwesenheit der menschlichen Spezies bemerkt und beginnt, sich zu wehren. Die Erde versucht, sich von einer Infektion mit dem menschlichen Parasiten zu wehren. Vielleicht ist AIDS der erste Schritt in einem natürlichen Prozess der Räumung." (30) Doch damit nicht genug der "Zeitgeist"-Phantasien: "Ich befürchte, dass AIDS nicht die überragende Kraftentfaltung der Natur sein könnte. Ob die menschliche Rasse tatsächlich eine Bevölkerung von fünf Milliarden oder mehr ohne einen Zusammenstoss mit einem heissen Virus erhalten kann, bleibt eine offene Frage. Unbeantwortet. Die Antwort liegt versteckt im Labyrinth der tropischen Ökosysteme. AIDS ist die Rache des Regenwaldes. Es ist nur der erste Akt der Rache." (30) Modischer geht es kaum noch: es ist alles drin, was ein Party-Gespräch anreichern kann, und zu mehr taugt dieser "angesagte" Ideologie-Cocktail auch nicht.
Gemeinsame Nenner der ökologisch orientierten Bevölkerungspolitik sind - in unterschiedlichem Ausmass - die Ignorierung von Macht- und Besitzverhältnissen, die Überordnung einer Ideologie über die Bedürfnisse anderer Menschen sowie ein ausgesprochener Hang zu apokalyptischen Zukunfts-Szenarien. Dies schiebt sich vor das kritische Nachdenken über die Ausbeutung der Natur und des Menschen (die schon immer zusammengehörten), über politische Zusammenhänge, über "kleine", konkrete Lösungsmöglichkeiten und über die Substanz von "globalen Problemen".
Die "Bevölkerungsexplosion", die ja auch dazu gezählt wird, ist Glaubenssache, wenn es auch Menschen (genauer: durchweg Männer) gibt, die behaupten, sie hätten sie persönlich erfahren. Einer von ihnen ist der Verfasser des Buches "Die Bevölkerungsbombe" (ein Titel-Plagiat des alten Moore-Originals): für ihn fand das Schlüsselerlebnis statt "in einer heissen, übelriechenden Nacht in Delhi ... Zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter befand ich mich mit einem uralten Taxi auf dem Heimweg zu unserem Hotel ... Während wir im Schrittempo durch die Stadt fuhren, kamen wir durch ein dichtbevölkertes Elendsviertel. Die Strassen waren voll von Menschen ... Menschen, Menschen, Menschen, Menschen ... seit jener Nacht kenne ich das Gefühl der Überbevölkerung." (31) Statt sich dem "Gefühl der Überbevölkerung" auszuliefern, wären einige Gedanken über die Stadtverwaltung, über die Landflucht, genauer die Landvertreibung oder über die eigene Platz- und Fremdenangst eher angebracht. Die Wahrnehmung der "Bevölkerungsexplosion" ist eben keine sinnliche, sondern wird durch eigene Ängste und durch die Darstellung einiger Organisationen, die in den Metropolen ansässig sind und der Über-Organisation UNO bestimmt. Zunehmend laufen bei ihr und ihren Unterorganisationen die Fäden zusammen, und sowohl für landwirtschaftliche Daten als auch für Bevölkerungsstatistiken und einige ökologische Zahlen besitzt sie das Monopol. Nichts davon ist neutral, sondern untersteht der Metropolen-Politik. Auch die Daten der Bevölkerungsstatistiken, die von diesen drei Bereichen wohl noch die solidesten sein könnten, machen keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck.
So ist ein ganzer Kontinent in statistischen Nebel gehüllt: abgesehen von vielem anderen weiss niemand, wieviele Menschen in Afrika leben. Selbst die der UNO angegliederte Weltbank hält die Daten über Nigeria, Äthiopien, Zaire und Guinea für "unbrauchbar" (in 32). Allein in den beiden erstgenannten Ländern wird nun aber etwa ein Drittel der EinwohnerInnen Afrikas südlich der Sahara vermutet. Und auf dieser Basis wird dann der Rest der Rechnung für den Kontinent zusammengeraten, oder, wie es die Weltbank ausdrückt: "Wie auch immer, die von uns präsentierten Zahlen sind unsere beste Schätzung." (in 32) Zum Vergleich sei noch angemerkt, dass selbst die offiziellen Angaben zur Menschenzahl für Afrika nicht wesentlich über denen für den doch sehr kleinen und ressourcenarmen Kontinent Europa liegen: angegeben werden für die Region "Schwarzafrika" (ohne die Republik Südafrika) und für Europa jeweils etwa eine halbe Milliarde Menschen. (32)
Für die derzeitige Situation gilt also, dass ein wohl nicht geringer Teil der Menschen Afrikas statistisch gesehen eine unbekannte Grösse darstellt. Auch anderswo gibt es erhebliche Fehlerquellen, beispielsweise in Bangladesh, wo die Menschen so lange gezählt wurden, bis sie der Weltbank-Schätzung entsprachen. Dazu bemerkte die feministische Ökonomin Farida Akther aus Bangladesh: "Es gibt keine zuverlässigen offiziellen Zahlen über das Bevölkerungswachstum. Die Zahlen werden getürkt, je nachdem, was sie beweisen sollen." (in 33) Diese Bewertung dürfte kein Einzelfall sein, sondern auch auf andere Länder zutreffen. Auf einer solchen Grundlage werden dann wieder Schätzungen über die Zukunft aufgebaut, die notwendigerweise noch windiger sind, aber immer im Brustton der Überzeugung dargebracht werden. Meist geschieht dies in Form von Graphiken, die allen Ernstes mit der christlichen Zeitrechnung oder noch davor beginnen und den BetrachterInnen weismachen wollen, irgend jemand wüsste, wieviele Menschen vor Jahrtausenden oder auch nur vor Jahrhunderten auf der Welt gelebt haben. Nicht einmal jetzt ist ihre Zahl wirklich feststellbar.
Was bei dem ganzen Geschätze herauskommt, spiegelt vor allem die persönlichen und beruflichen Vorlieben und die Vorstellungskraft der Schätzenden wider. Das kann zu den seltsamsten Phantasien führen: "Bei der vorsichtigen Annahme, dass jeder der chinesischen Menschen auf dem Lande zwanzig und jeder der hundert Millionen Städter sechs Würmer beherbergt, kommen wir zu einer Schätzung von achteinhalb Milliarden Spulwürmern, die jetzt (d.h. irgendwann vor 1951) in den Eigeweiden der Chinesen leben. Legte man diese Würmer hintereinander, so ergäben sie seinen fast zwei Millionen Kilometer langen Wurm - man könnte ihn fast fünfzigmal um den Äquator wickeln." (in 2) ChinesInnen, Würmer und der Äquator scheinen auf eine unerfindliche Art miteinander verbunden zu sein, zumindest in den Köpfen mancher Statistik-Treibenden: "Im Gänsemarsch aufgereiht, würden die Chinesen heute (d.h. 1969) schon eine Schlange bilden, die sich zehnmal um den Äquator ringeln lässt; ihre Bandwürmer allein wiegen viel mehr als die Bevölkerung Oberammergaus." (in 34) Solchen Bedrohungsszenarien stehen ebenso skurrile, aber weniger angstbeladene Vorstellungen gegenüber: wenn sich die (geschätzten) ChinesInnen statt entlang des Äquators zusammen mit allen anderen (geschätzten) Menschen der Welt im Herzogtum Luxemburg versammeln würden, dann stünden "sie nicht unbequemer als in einem überfüllten Vorortzug während der Stossverkehrszeit." (35) Da aber die meisten Menschen bleiben (sollen), wo sie sind, ist in Luxemburg und anderswo offenbar noch immer ausreichend Platz, entgegen allen Horrorszenarien.
Zwar tragen schon die Fundamente der Menschen- und Nahrungsstatistiken nicht und auch die ökologischen Grunddaten weisen schwerste Mängel auf, doch wird darauf ungerührt eine ganze Ideologie aufgebaut. Der Eindruck entsteht, dass nicht die Zahlen zuerst da waren und daraus Schlüsse gezogen wurden, sondern dass die Ideologie von vornherein im Zentrum stand und ihr die Statistiken als Garnierung angehängt wurden. Und nun arbeiten sich in Diskussionen - vom Kongresszentrum bis zum Stammtisch - viele an der Zahlen-Garnierung in dem abgesteckten neo-malthusianischen Rahmen ab, rechnen FAO-Getreide gegen Weltbank-Menschen auf und verbinden das Ganze mit den gerade gängigen ökologischen Theorien. Was dabei herauskommt, ist zwangsläufig, denn wer sich auf das Glatteis von Weltdurchschnitts-Kalorienwerten, Fruchtbarkeitsraten und Methanausstoss von Kühen begeben hat, rutscht früher oder später in die Falle der Bevölkerungspolitik, in die andere dann mitgerissen werden.
Verschleiert wird bei solchen Phantom-Diskussionen, dass hinter diesen Theorien und Statistiken letztlich einzelne Menschen stehen, die zur theoretischen Untermauerung benutzt und zu statistischen Grössen herabgewürdigt werden. Dies geschieht aus einem Blickwinkel "von oben herab", was nicht nur eine Anmassung gegenüber jedem einzelnen von ihnen - von uns - ist, sondern einen grundsätzlich falschen Ansatz darstellt. Der Begriff "Bevölkerung" ist zentraler Bestandteil dieses Ansatzes, denn Menschen, die so definiert werden, werden zur gesichts- und geschichtslosen Masse. Sie werden zu Objekten wie die Hülsenfrüchte aus Gregor Mendels Klostergarten, die dieser als "Bevölkerung" bezeichnete und zu Phantomen, denen Eigenschaften und Verhaltensweisen nach Belieben nachgesagt werden können: "Bevölkerungen wurden wechselweise als Agenten, Prozesse, Gegenstand von Entwicklungsplanung, Hindernisse für erfolgreiche Investitionen, als Quellen von Arbeitskraft und Gefahr für das ökosystem der Erde her- und vorgestellt." (36) Erst, wenn dieser Phantom-Begriff wieder in die darin zusammengefassten Menschen aufgelöst wird, wird ein wirkliches Nachdenken möglich. Das liegt jenseits der vorgegebenen Linien, die das "fremde Bewusstsein" darstellen und nicht klären, sondern täuschen. Ohne eigenes Bewusstsein gibt es aber keine eigene Lebensgestaltung - ohne Kind, mit wenigen oder vielen Kindern - und es gibt auch kein Erkennen von real exstierenden Problemen und demzufolge auch keine Lösung.
Nach diesem Ausflug soll es um die Berührungspunkte zwischen der Bevölkerungspolitik und AIDS gehen. Zunächst lautet die Frage
Institutionen: Wer macht was?
Bei der Suche nach denjenigen, die sich mit AIDS und Bevölkerungspolitik beschäftigen, kam ein Sammelsurium an Zitat-Fundstücken zusammen, die beide Themen miteinander verbinden. Es sind offizielle Verlautbarungen und/oder Aussagen hochrangiger VerteterInnen einiger Organisationen, die kurz beschrieben werden, um - soweit möglich - deren Interesse an AIDS- und Bevölkerungspolitik einordnen zu können. Die Aufstellung bleibt zwar unvollständig, ist aber wohl repräsentativ genug, um die allgemeine Tendenz aufzuzeigen.
Selbst bei dieser relativ oberflächlichen Betrachtung fällt der hohe Grad der Vernetzung zwischen diesen Organisationen auf: es ist eine überschaubare Anzahl von Einrichtungen, die sich ideell, finanziell und personell zuarbeiten. Sowohl die AIDS- als auch die Bevölkerungspolitik wird von diesen und einigen anderen Institutionen dominiert, die einerseits "anerkannte" Produkte dieses politischen/medizinischen Systems sind, andererseits dieses System in ihrem Sinne beeinflussen. Ihre Machtstellung, die nicht nur auf politischer Rückendeckung, sondern auch auf Finanzmitteln (für den Eigenbedarf und zur Weitergabe an andere "Anerkannte") basiert, führt bei untergeordneten Einrichtungen im Regelfall dazu, die Vorgaben zu übernehmen. Sollte es einmal Ausnahmen von dieser Regel geben, werden diese aus der "Gemeinschaft" ausgeschlossen, die als Reaktion darauf nur noch opportunistischer zusammenrückt. So entsteht ein hierarchischer Komplex, in dem "von oben" die Grenzen seines eigenen Aktionsradius gesetzt werden und der sich "nach unten" gegenüber seinen KritikerInnen und "Arbeitsobjekten" abgrenzt. Im Inneren oft von Intrigen geplagt, präsentiert er sich nach aussen als intellektuelle und moralische "Elite", die unisono mehr AIDS- oder Bevölkerungspolitik fordert. Das Publikum soll dem selbsterzeugten "überwältigenden Konsens" und einer weiteren Machterweiterung auf seine Kosten zustimmen. Dieses Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten der "Elite"-Institutionen ist keine Verschwörung von "Masterminds" - das wäre eine masslose Überschätzung - sondern eher eine ganz "normale" Variante des modernen Hofschranzentums.
Die Auflistung der Organisationen beginnt mit einer Ausnahme von der Regel, denn für das erste Fallbeispiel waren keine Zitate aufzutreiben, die AIDS und Bevölkerungspolitik miteinander verbinden. Doch ist es zu wichtig, um es auszulassen und zudem in seiner AIDS-Arbeit nur wenig, in seinen bevölkerungspolitischen Aktivitäten fast gar nicht bekannt. Doch zu dieser Bescheidenheit besteht eigentlich kein Anlass:
1. Der Epidemic Intelligence Service (EIS)
wurde 1951 innerhalb des CDC (damals: 'Communicable Disease Center', jetzt: 'Centers for Disease Control and Prevention'), dem zentralen US-Gesundheitsamt in Atlanta, eingerichtet. Das CDC war die Nachfolge-Behörde der 'Malaria Control in War Areas', die während des zweiten Weltkriegs zur "Malariakontrolle" (=Vernichtung von Moskitos) in "Kriegsgebieten" (=militärischen Einrichtungen innerhalb der USA) gegründet worden war. Nach dem Kriegsende konzentrierte sich das CDC zunächst weiterhin auf Moskitos und versprühte mit dem Ziel der "Nationalen Malaria-Ausrottung" tonnenweise DDT. Dieses Programm wurde mehrere Jahre lang durchgeführt, bis endlich zur Kenntnis genommen wurde, dass die Malaria bereits einige Zeit vorher und ohne, dass es das eigene Verdienst gewesen wäre, verschwunden war. (37)
Dieses Fiasko ging im Kalten Krieg unter, der dem CDC neue Betätigungsfelder und Finanzquellen erschloss. Eine wichtige Rolle spielte dabei Alexander Langmuir, der 1949 Chefepidemiologe in Atlanta wurde und als Kalter Krieger, der an der biologischen Waffenforschung beteiligt war, über einschlägige Kontakte zum Pentagon verfügte. Das beteiligte sich am CDC-Budget, zudem wurde Langmuir die Gründung des EIS innerhalb des CDC übertragen. (37) Damit war dort eine Art "Gesundheits-Geheimdienst" entstanden, dessen Auftrag lautete, die USA vor einem Angriff mit biologischen Waffen zu schützen. Die "EIS-Officers" der 1950er jagten während ihrer zweijährigen Ausbildung auf der Suche nach "un-amerikanischen" Mikroorganismen kleinen und grossen Häufungen von Erkrankungen hinterher, doch der immer wieder öffentlichkeitswirksam prophezeite Angriff mit biologischen Waffen blieb aus.
Gleichzeitig expandierte der EIS unter Beibehaltung seines militärischen Stils in den zivilen Gesundheitsbereich und gewann auch darin an Einfluss. War es einst das CDC gewesen, dem diese Unterabteilung angegliedert worden war, wurde der EIS schnell zum "Rückgrat" des CDC, wie einer der EIS-geschulten CDC-Direktoren das Verhältnis beschrieb: "Man sieht die Wirbelsäule nicht oft, aber sie untersützt immer den Körper. In den frühen Tagen des CDC waren es wirklich die Epidemiologie, Langmuir und die Glaubwürdigkeit des EIS, die ein relativ kleines, obskures Zentrum für übertragbare Krankheiten (communicable disease center) in ein nationales Licht brachten, wo es wachsen und Anerkennung erlangen konnte. Statt dass das CDC Teil einer anderen Organisation wurde, wurden andere Organisationen Teile des CDC." (in 37) Zu den Tätigkeitsfeldern, die das CDC durch die Expansion dazugewinnen konnte, gehören beispielsweise Quarantänemassnahmen für Astronauten, Reisen zu Dürre- und Hungerkatastrophen im Trikont sowie Bewertungen der Verstrahlungen durch das Atomkraftwerk 'Three Mile Island' und der Vergiftungen in 'Times Beach' und 'Love Canal'. Dies machte für das CDC eine Umbenennung nötig, dem neuen Namen nach sollte es nicht mehr nur um "übertragbare Krankheiten", sondern um "Krankheitskontrolle" allgemein gehen. Das traditionelle Interesse an Epidemien (oder was dazu erklärt wurde) machte jedoch auch weiterhin einen grossen Teil der Aktivitäten aus.
Zusammen mit dem CDC ist auch der EIS weiter gewachsen und hat bis jetzt etwa 2.000 EpidemiologInnen (zunächst ausschliesslich Männer, aber im Laufe der Zeit zunehmend Frauen) hervorgebracht. Den "EIS-Officers" wird während ihrer Ausbildung zwei Jahre lang eine epidemiologische Schulung in Theorie und Praxis geboten, die bereits weitreichende Kompetenzen beinhaltet. Sie können sich als "Krankheits-Detektive" (37) betätigen und Kranke wie deren Akten ausforschen, auch die Wertung der Daten wird ihnen anvertraut. Da die Vorlieben des EIS immer noch eindeutig bei infektiösen Krankheitsursachen liegen, wird grundsätzlich nach Bakterien oder Viren gesucht, sofern nicht zu offensichtlich andere Faktoren beteiligt sind. Dabei erhalten sie nicht nur bei den CDC Rückendeckung, sondern auch bei einer zunehmend infektionistisch ausgerichteten Medizin und einer mittlerweile ebenso denkenden Öffentlichkeit, deren Erklärungsbedarf für Krankheiten durch die Präsentation eines Mikroorganismus schnell zufriedengestellt ist. Dieser Konsens ermöglicht den "EIS-Officers" eine Arbeit, um die sie viele KollegInnen beneiden: sie können in aller Welt Blutproben nehmen, Impfungen durchführen, Quarantäne anordnen und das alles noch mit einem Getöse verbinden, das durch das Echo in den Medien immer wieder verstärkt wird. Dagegen konnte sich Kritik, die an verschiedenen dieser Aktionen von Aussenstehenden geäussert wurde, bisher nie durchsetzen.
Der EIS ist ein Produkt der modernen US-amerikanischen Medizin, er hat deren Prioritäten aufgegriffen und perfektioniert. Inzwischen hat er eine Position erlangt, durch die er wiederum die Entwicklung der Medizin beeinflusst, und das keineswegs nur in den USA. Kaum eine spektakulärere Erkrankungshäufung irgendwo in der Welt findet ohne den EIS statt, der dann oft die Richtung der Untersuchungen allein oder im Verbund mit gleichgesinnten Organisationen massgeblich bestimmt (s. Zaire-Artikel). Was dabei herauskommt, wird innerhalb der "Mainstream"-Medizin prinzipiell nicht hinterfragt, und so wurden schon äusserst fragwürdige Geschichten zu Lehrbuchinhalten.
Der EIS ist zu einer Art Kaderschmiede für EpidemiologInnen geworden, für andere ein bewundertes Vorbild und für die "EIS-Officers" ein Karriere-Sprungbrett. Diejenigen, die durch diese Schule gegangen sind, sind beispielsweise in folgenden Machtpositionen anzutreffen (Stand 1992): als stellvertretender Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, als Herausgeber des 'Journal of the American Medical Association', als Medizin-Journalist bei der 'New York Times', als stellvertretender US-Gesundheitsminister, als Leiter der "Sozialen Wohlfahrt" im 'Secretariat de Son Altesse l'Aga Khan' und bei den CDC sowieso auf Leitungsebene (wodurch dessen Grenzen zum EIS weiter verwischen) - um nur einige wenige zu nennen.
Doch die EIS-Ausbildung hat nicht nur die Aufgabe, die eigenen, zuverlässigen Leute auf einflussreiche Positionen zu katapultieren, sondern war von Anfang an vor allem auf die Schaffung einer medizinischen "Schnellen Eingreiftruppe" ausgerichtet, für den Fall, dass "eine wirkliche Katastrophe von massiven Dimensionen, entweder zivil oder militärisch, geschehen würde". (38) Die ehemaligen "EIS-Officers" stellen in diesem System die ReservistInnen dar, die auf Dauer dem Hauptquartier zur Verfügung stehen sollen. Abgesehen von wenigen Ausfällen dürfte diese Rechnung bei den meisten von ihnen auch aufgegangen sein, die immer wieder zu den jährlichen Treffen kommen und Veränderungen ihrer Karrieren melden, damit das Mitgliederverzeichnis immer auf dem neuesten Stand bleibt. Darin sind der Werdegang, der Standort sowie die Namen von Frau/Mann und Kindern derjenigen nachzuschlagen, die die Auszeichnung für die erfolgreich absolvierte EIS-Schulung besitzen: den silbernen Schuh mit dem Loch in der Sohle. Das alles fördert einen Zusammenhalt in Kriegs- und Friedenszeiten, der wahrscheinlich nicht übertrieben als Korpsgeist bezeichnet werden kann.
Wirklichen Frieden gibt es in Atlanta aber nie, denn immer wird irgendein Feind ausgemacht und bekriegt, sei es nun eine Mikrobe oder eine drohende Haushaltskürzung. Besonders erfolgreich wurde bisher immer das Budget verteidigt, CDC/EIS konnten sogar mehrere Versuche, ihre Behörde aufzulösen, abwenden. Aber auch die Virenjagd führte schon zu ungewöhnliche Siegen: die Soldaten, die 1967 in Bolivien an der Menschenjagd auf Che Guevara beteiligt waren, wurden von den USA nämlich nicht nur durch die CIA, sondern auch durch den virenjagenden CDC loyal unterstützt. (37)
Loyalität ist ein Stichwort, das bei Langmuir immer wieder im Zusammenhang mit dem EIS auftaucht, auch die CDC sind strukturell darauf ausgerichtet. Viele der ForscherInnen dort bekleiden militärische Ränge und sind im Besitz einer Uniform "komplett mit Epauletten". (39) Die wird bei den CDC mittwochs getragen, nicht jedoch bei ihren KollegInnen von den 'National Institutes of Health', die sich dieser Anordnung des 'Surgeon General' (dem beide Institutionen unterstehen) widersetzten. Die "Armee des Surgeon General" (39) hat ihr Hauptquartier eben in Atlanta.
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Langmuirs Interesse an der Bevölkerungspolitik hatte in den frühen 1930ern begonnen, als er ein Anhänger von Margaret Sanger (s.o.) wurde, später wurde diese Neigung durch Kontakte zum 'Population Council' (s.u.) aufgefrischt. Dort nämlich wurde die Einrichtung eines "Kaders" erwogen, "der für Familienplanung und Bevölkerung das sein würde, was der EIS für die epidemiologische Praxis in den USA war" (37) und den Langmuir aufbauen sollte. Doch da der mit der Umsetzung beim 'Population Council' unzufrieden war, "wollte er nach Atlanta zurückkommen und ihnen zeigen, wie es gemacht werden sollte." (in 37)
Mitte der 1960er setzte er den ersten "EIS-Officer" in der "Familienplanung" ein. Was ein Epidemiologe dort zu suchen hatte, definierte Langmuir so: "Dieses Programm ist gerechtfertigt mit der Begründung, dass die Bevölkerungsexplosion die ernsteste Epidemie von allen ist." (38) Nicht nur diese Theorie war neu, auch deren praktische Umsetzung: dieser erste "EIS-Officer" war auch der erste Angehörige des Öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA, der im Bereich der "Familienplanung" arbeitete. Erst durch diese Pioniertat angeregt, befasste sich die US-Staatsmedizin mit diesem Bereich und wurde im In- und Ausland aktiv. (37) Auch der EIS expandierte bevölkerungspolitisch: "Das schnelle Wachstum dieses Programms und die breite Unterstützung, die es erhalten hat, zeigen, dass die Epidemiologie zu diesem Problem einen Beitrag leisten kann." (38)
Mittlerweile sind die CDC eine Riesenbehörde mit eigenen national und international ausgerichteten bevölkerungspolitischen Aktivitäten. Etlichen EIS-Leuten wird dort ein Auskommen gesichert, doch auch ausserhalb Atlantas machten einige in diesem Bereich Karrieren (Stand 1992): so ist beispielsweise eine EIS-Frau seit 1990 Leiterin für Planung und Politik-Koordination beim 'Special Programme of Research in Human Reproduction' der Weltgesundheitsorganisation (s.u.), ein EIS-Mann seit 1982 Leiter der Forschungsabteilung des 'Office of Population' bei der 'Agency for International Development' (s.u.) und ein weiterer seit 1987 Leiter des medizinischen Programms bei der 'International Planned Parenthood Federation', an deren Gründung einst das Langmuir-Vorbild Margaret Sanger massgeblich beteiligt war.
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Zu der Zeit, als er den ersten "EIS-Officer" in die "Familienplanung" schickte, erläuterte Langmuir: "... wir finden alle Sorten wunderbarer Dinge, die niemand sonst kennt, und wir verwandeln sie in unsere Forschungsaktivitäten. Es ist eine ganz andere Auffassung, und das hat sich gelohnt. Es hat uns eine Einzigartigkeit gegeben, die keine andere Gruppe hat, weil es uns gibt". (in 37) Dieser Ansatz wurde auch nach Langmuirs Pensionierung beibehalten und führte immer wieder ins gewünschte Ziel.
So auch bei AIDS, an dessen Etablierung - gemeinsam mit einigen KollegInnen - der EIS und die CDC (von 1977 bis 1989 mit Direktoren, die aus dem EIS kamen) massgeblich mitwirkten. Zunächst wurden fünf schwerkranke Männer mit einer nicht-infektiösen Lungenentzündung in drei verschiedenen Krankenhäusern in Los Angeles zu einer Epidemie erklärt. Dann wurde diese Lungenentzündung mit einer völlig anderen Krankheit, dem ebenfalls nicht-infektiösen Kaposi-Sarkom verbunden, das in San Francisco und New York aufgetreten war. Dies geschah 1981 durch Veröffentlichungen in der CDC-Hauszeitschrift 'Morbidity and Mortality Weekly Report' und ergänzend in der 'New York Times' durch Artikel des EIS-Absolventen Lawrence Altman. Beide Publikationen werden weltweit gelesen und wirken als "Trendsetter".
Als gemeinsamer Nenner der Erkrankungen wurde die Homosexualität der Patienten herausgestellt, während andere persönliche Charakteristika konsequent ignoriert wurden. Dann wurde als Klammer noch eine Verminderung der T-Helferzellen im Blut (die lapidar zur Immunschwäche erklärt wurde) behauptet, obwohl die keineswegs bei allen Kranken festgestellt wurde. Als allem zugrundeliegende Ursache wurde anfangs ein Herpesvirus postuliert, doch erwiesen sich in der Folgezeit diejenigen, die ein Retrovirus bevorzugten, als stärker und setzten schliesslich HIV durch. Die frühe Bevorzugung eines Virus als Krankheitsursache ist nicht zuletzt den CDC/EIS-Leuten zuzuschreiben, wie auch die damit verbundene Vernachlässigung anderer Möglichkeiten. Die Festlegung auf ein Retrovirus wurde ab 1983/84 zwar öffentlich durch Robert Gallo vom US-'National Cancer Institute' vertreten, doch war diese Linie schon 1981 innerhalb der CDC vom EIS-Absolventen Donald Francis vehement vefolgt worden. Von James Curran, der inzwischen zum "stellvertretenden Direktor (HIV)" der CDC geworden ist, wurde zwei Jahre später anhand des "Willie-Sutton-Gesetzes" die Richtung der CDC in der AIDS-Forschung erläutert: "'Wo sollen wir von den CDC unser Geld anlegen?' fragte Curran. 'Wohin würde Willie Sutton heute gehen? Ich glaube, heute würde er dorthin gehen, wo die Retroviren sind.'" (40) Sutton war kein Epidemiologe, sondern ein Bankräuber, der auf die Frage, warum er Banken ausraube, geantwortet hatte: "Weil dort das Geld liegt." (40) Damit waren in Atlanta medizinische und politische Vorgaben gemacht worden, an denen sich die AIDS-Forschung dann orientierte. War den Kranken damit auch nicht geholfen, ermöglichte es doch der Behörde in Atlanta, ihren infektionistischen Vorlieben nachzugehen und erhebliche Haushaltskürzungen der Reagan-Administration aufzufangen - einige ihrer heutigen AIDS-Spitzenfunktionäre konnten so ihre drohende Arbeitslosigkeit abwenden. (40)
Nachdem die "Immunschwäche-Lustseuche" AIDS herbeidefiniert worden war, wurden immer mehr alte Einzelkrankheiten unter ihrem Namen zusammengefasst. Die Macht der Definition und ihrer Erweiterung liegt bei den CDC, die bestimmen, was jeweils als AIDS bezeichnet werden soll. Stagnieren in den USA die AIDS-Statistiken, werden von den CDC immer wieder neue Einzelerkrankungen zu AIDS erklärt. Die grosse Definitions-Erweiterung von 1987 stiess aber ausgerechnet bei Langmuir, der die Geschehnisse aus dem Ruhestand verfolgte, auf Kritik. Als Ko-Autor veröffentlichte er 1990 einen Artikel, in dem die AIDS-"Fälle" nach der neuen Definiton aus der Statistik herausgerechnet worden waren. Aus der abgeflachten Kurve wurde eine statistische Normalverteilung erkannt, "die Ende 1988 ihren Scheitelpunkt erreicht und dann Mitte der 1990er auf einen niedrigen Punkt sinkt ... Ein fortgesetztes Auftreten endemischer Fälle kann erwartet werden, aber wir glauben, dass dies auf niedrigem Niveau geschehen wird." (41) Die Autoren waren zu diesem Ergebnis gekommen, nachdem sie "Farr's Gesetz" auf die AIDS-Statistik angewandt hatten. Bereits seit 1985 hatte Langmuir versucht, den AIDS-ForscherInnen in Atlanta dieses epidemiologische Grundprinzip in Erinnerung zu rufen, vielleicht als "goldene Brücke" zum Abbau des Konstrukts AIDS.
Doch in Atlanta wurde dieser Weg nicht eingeschlagen, vermutlich wäre eine Umkehr wegen der vielen Interessen, die sich inzwischen an AIDS gebunden hatten, auch gar nicht mehr gelungen. So wurden Langmuir und "Farr's Gesetz" ignoriert und 1993 noch mehr alte Einzelerkrankungen zu AIDS definiert. Auch die globale AIDS-Politik wird weiter forciert, vor allem von der Weltgesundheitsorganisation mit ihrem eigenen AIDS-Programm (s. Zaire-Artikel). Dieses Programm wurde von Jonathan Mann aufgebaut und wird jetzt von Michael Merson geleitet, beide EIS-geschult. Für die Medizin-Epidemiologie allgemein und besonders für AIDS trifft die Beschreibung eines Insiders zu: er "sah den EIS als einen 'Oktopus', dessen Tentakel überallhin reichten." (37) Dieser Ausdruck stammt von Langmuirs Nachfolger als Leiter des EIS.
Viele Organisationen haben AIDS mit aufgebaut und verdienen daran. Eine sehr wichtige war und ist der Apparat in Atlanta, der dadurch nicht nur die von Reagan geplanten Kürzungen auffangen konnte, sondern während der 1980er sogar einen regelrechten Wachstumsschub erfuhr und jetzt stärker dasteht als je zuvor.
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Von (fast) allen Seiten wird CDC/EIS eine masslose Bewunderung entgegengebracht. Der Direktor für "Epidemiologie der menschlichen Fortpflanzung" bei der Verbindungsstelle zwischen der UNO und Nichtregierungsorganisationen beispielsweise vermerkte auf seinem AIDS-Kongressbeitrag: "Widmung an die CDC - Diese Übersicht ist der E.I.S.-Bewegung gewidmet - einem der dauerhaften Beiträge für Gesundheitsschutz/-förderung nach dem zweiten Weltkrieg." (42) Die CDC (sicherlich mit EIS) erhob ein französischer AIDS-Romancier gar zu "der eindrucksvollsten Organisation, die der Mensch geschaffen hat, um sich gegen Krankheit und Tod zu wehren" (43). Auch in der BRD gibt es SympathisantInnen, von denen einige daran arbeiten, eine entsprechende Einrichtung auch hier zu gründen. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die bundesdeutschen AIDS-Forschung dazu gehört, wie Meinrad Koch, der den Bezugsrahmen so beschrieb: "Die sich erneuernde Infektionsepidemiologie der westeuropäischen Länder hatte ihr grosses Vorbild in den Centers for Disease Control (CDC) der Vereinigten Staaten. Die CDC waren unter Führung von Dr. Langmuir zu der Institution geworden, die heute den Standard für die infektionsepidemiologische Überwachung setzt." (44) Die Etablierung einer solchen Infektionsepidemiologie findet wahrscheinlich gerade statt, ohne dass die Öffentlichkeit davon etwas merkt, also die Menschen, die letztlich davon betroffen sein werden.
Die "Epidemien" AIDS und "Bevölkerungsexplosion" zeigen besonders deutlich den CDC/EIS-Ansatz: zunächst werden neue Felder ("alle Sorten wunderbarer Dinge, die niemand sonst kennt") besetzt und zu Objekten erklärt, die nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen definiert werden ("wir verwandeln sie in unsere Forschungsaktivitäten"). Da die Definition zudem staatliche Vorstellungen und Bedürfnisse bedient, werden aus den Vorgaben öffentlich geförderte Vorhaben ("das hat sich gelohnt"). Da CDC/EIS die Felder definiert haben, können sie innerhalb dieses Vorhabens eine dominierende Stellung einnehmen ("es hat uns eine Einzigartigkeit gegeben, die keine andere Gruppe hat") und immer einen Vorsprung bewahren, der für andere nicht einzuholen ist ("weil es uns gibt") - was auch für die in der BRD angestrebte Infektionsepidemiologie gilt.
Vermutlich wird hier auch das gesamte Epidemie-Konzept von CDC/EIS über kurz oder lang übernommen werden, ein Konzept, das immer mehr Phänomene zur "Epidemie" erklärt. Dazu gehört schon länger die "Bevölkerungsexplosion" und seit einigen Jahren auch die Gewalt, die zu einem individuellen Problem erklärt wird, während staatlich sanktionierte Gewalt nicht zum Untersuchungsobjekt wird. Da deren Thematisierung selbstverständlich nicht Auftrag einer staatlichen Behörde ist, besteht die Arbeit für die CDC darin, zur Abgabe privater Waffen aufzurufen und für den EIS, zu den Schauplätzen von Aufständen zu reisen, beispielsweise 1992 nach Los Angeles. (45) So werden soziale/politische Missstände zu einem bio-medizinischen Forschungsfeld definiert, das (wie die AIDS- und Bevölkerungs-"Epidemiologie") eine Fülle von Daten über die Betroffenen sammelt, um daraus die Vorgaben für Disziplinierungsmassnahmen zu erarbeiten. Auch hier geht es auf schmaler Spur zielsicher an den eigentlichen Problemen vorbei.
2. Die Agency for International Development (AID)
ist die US-"Entwicklungshilfe"-Behörde. Sie hatte ihren Ursprung in einem Gewirr von ineinander übergehenden und immer wieder umbenannten Organisationen (z.B. MSA, FOA, ICA), bis in der Kennedy-Ära die Wahl auf einen Namen fiel, der dem Zeitgeist entsprach und auch die folgenden US-Regierungen überstand. Im Gegensatz zu den Vorgängernamen bildet die meist verwendete Abkürzung ein Wort: das englische "aid" bedeutet "Hilfe" oder "Hilfsmittel", was freundliche Assoziationen wecken kann. AID untersteht dem US-Aussenministerium und verfolgt dessen Ziele, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Ihr Instrumentarium umfasst den Bereich, der unterhalb der Schwelle militärischer Operationen liegt. Das schloss zumindest in der Vergangenheit Aktivitäten wie die des (inzwischen geschlossenen) 'Office for Public Safety' mit ein, das in Verhör- und Foltermethoden ausbildete oder ausgiebige Kooperationen mit der CIA (46,47), einer Art Schwesterorganisation mit prinzipell gleichem Ziel und teilweise ähnlichen Mitteln.
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Die bevölkerungspolitischen Aktivitäten von AID begannen 1964 mit der "Allianz für den Fortschritt", mit der die USA ihren Einfluss auf Lateinamerika festigen und ausbauen wollten. Die "Allianz" versorgte die Diktaturen im "Hinterhof" der USA mit Hilfe, zu der auch die von AID finanzierte "Bevölkerungsarbeit" gehörte. (48) Derartige "Entwicklungshilfe" durch AID wurde 1966 verstärkt, als Reimert Ravenholt Leiter der Bevölkerungsabteilung in AID's 'War on Hunger'-Büro wurde. Er hatte vorher eine Ausbildung beim EIS durchlaufen und wird als "auffallende und oft kontroverse Figur" (49) beschrieben, die "binnen weniger Jahre zu einem der einflussreichsten Bürokraten in Washington" (48) aufsteigen konnte. 1969 richtete Präsident Nixon in seinem ersten Amtsjahr bei AID das 'Population Office' ein, dessen erster Direktor Ravenholt wurde. Dass er dort Aussenpolitik betrieb, verhehlte er nicht: "Wenn wir nicht versuchen, diesen Ländern bei ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu helfen, würde die Welt gegen die starke kommerzielle Anwesenheit der USA rebellieren." (in 49) Ravenholt herrschte über "ein persönliches Reich der Bevölkerungskontrolle" (49) und über ein Jahresbudget von zunächst 50 Millionen Dollar, das in den folgenden Jahren stetig wuchs. Ein Teil dieser öffentlichen Gelder ging über AID an andere Bevölkerungspolitik-Organisationen wie den 'United Nations Fund on Populations Activities' (s.u.), dessen Budget in den frühen 1970ern zu mehr als der Hälfte von AID getragen wurde, oder den 'Population Council' (s.u.).
Den Rest verbrauchte AID selber: "Ravenholts Begeisterung umfasste die Produktion von roten, weissen und blauen Kondomen zur Zweihundertjahrfeier der USA ebenso wie die Förderung sehr viel risikoreicherer Verhütungsmittel. Ravenholts zielstrebiger Eifer auf dem Gebiet der Bevölkerungskontrolle leistete nicht nur einen Beitrag zu AID's 'Führungsrolle' in dem Bereich, sondern auch zu den besonderen Formen, die die Bevölkerungskontrolle in der Dritten Welt annahm." (49) Dazu gehörte die Vermarktung der "Pille" im Trikont, die nach seinen Vorstellungen in kleinen Läden ohne Beschränkungen erhältlich sein oder durch Hausbesuche von "Familienplanungs"-Personal an die Frau gebracht werden sollte. Angelehnt hatte Ravenholt diese Methodik an ein US-amerikanisches Vorbild: "'Das Prinzip, das bei der Haushaltsverteilung von Verhütungsmitteln beteiligt ist, kann mit Coca-Cola demonstriert werden', erklärte er. 'Wenn man an jeden Haushalt eine reichliche, freie Probe Coca-Cola verteilen würde, würden dann nicht arme, ungebildete Bauern soviel Coca-Cola trinken wie die reiche, gebildete Bevölkerung?'" (49)
Noch riskanter als diese unbekümmerte "Pillen"-Verteilung war ein "Spiralen"-Typ, den die Herstellerfirma in den USA nach Meldungen über Gesundheitsschäden nicht mehr absetzen konnte und der über AID dann unsterilisiert in den Trikont geschickt wurde. Meldungen über Infektionen tat Ravenholt zwar mit dem Hinweis ab, sie würden durch die Promiskuität der Trägerinnen verursacht, schliesslich wurden diese "Spiralen" aber doch zurückgerufen. (49)
Wenig später besann er sich auf eine andere Methode der Bevölkerungspolitik und eröffnete der Öffentlichkeit einen ehrgeizigen Plan: "1977 gab Dr. R.T. Ravenholt in einem Interview seine inzwischen berühmte Erklärung ab, dass die USA versuchen würden, die Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen ein Viertel der fruchtbaren Frauen der Welt freiwillig sterilisert werden können." (49) Danach dauerte es noch zwei Jahre, bis der zunehmend umstrittende Ravenholt AID verliess und wieder bei den CDC unterkommen konnte. 1983 versuchte er, auch an der Diskussion um AIDS teilzunehmen, schrieb sich aber mit der "Rolle des Hepatitis B-Virus bei AIDS" (50) ins Abseits. Nach einem Intermezzo bei der US-Behörde, die sich mit Drogenkonsum und mentaler Gesundheit befasst, wurde er Direktor der privaten 'World Health Surveys Inc.'. Bei AID jedoch lebt sein Geist nach wie vor weiter: "Noch heute geraten seine Mitarbeiter ins Schwärmen über seine dynamische Art. Er habe gut ausgebildet Leute mit Initiative und einem klaren Blick für Probleme ins Population Office geholt und diesem so einen 'innovative spirit' verliehen, der bis heute nachwirke." (48)
Ob nun mit oder ohne Ravenholt, AID's bevölkerungspolitische Arbeit ändert sich nicht prinzipiell. Verwendet wird das, was zur Verfügung steht gegen diejenigen, die für die US-Interessen als "Über"-Bevölkerung gelten. Die Palette der Mittel, die AID einsetzen darf, wird allerdings durch die US-amerikanische Arzneimittelzulassungs-Behörde eingeschränkt, denn das, was die im eigenen Land nicht zulässt, darf AID nicht verbreiten. Dieses Problem gab es mit den hormonellen Verhütungsmitteln, die nach der "Pillen"-Ära entstanden waren. Eines von ihnen war 'Depo-Provera' eine "Dreimonatsspritze" der Firma 'Upjohn', die in den USA wegen ihrer Gesundheitsrisiken nicht zugelassen wurde (s. Definitions-Artikel). Auch die Lobby-Arbeit des AID-Ablegers 'Family Health International' (FHI), in dessen Vorstand der Präsident von 'Upjohn' sitzt, änderte nichts daran, und nicht einmal der Vorschlag des FHI-Präsidenten, die Injektion wenigstens gegen "Bevölkerungsminderheiten in den USA" (in 49) einzusetzen, wurde berücksichtigt. Während 'Depo-Provera' für das Inland tabu bleibt, wird sie im Trikont benutzt - unter anderem durch AID, die das Mittel bei ausländischen 'Upjohn'-Niederlassungen aufkaufte und es unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen verbreitete. (51)
FHI zog in diesem Fall zwar den kürzeren, sitzt ansonsten aber am langen Hebel und erhält nicht nur Geld von AID, sondern auch von Pharmafirmen. (E.coli-bri 6) Die Industrienähe dieser Organisation ist nicht nur inhaltlich und personell, sondern auch räumlich: FHI residiert im 'Research Triangle Park' in North Carolina, dem Standort mehrerer grösserer Pharmaunternehmen, zu denen auch 'Burroughs Wellcome' gehört, die US-Filiale der britischen AZT-Herstellerfirma 'Wellcome Foundation' (s.u.).
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Seit 1986 wird bei AID auch mit AIDS gearbeitet: "In den
Gruß Paraneua-Bioeule-Odermenning.de.vu: Wissen Sie warum der Text im Internet hier mitten im Satz stoppt? |