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  Reinhard Markner
   
 


             B ü ch e r

             A u f s ä tz e

             R e z e n s i o n e n

             M i s z e l l e n

           

F a b i a n i s m u s
 

Unautorisierter Abdruck in : Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, Hamburg 1999

1. Fabianismus bezeichnet die politischen Konzepte, Strategien und Aktivitäten der Fabian Society (FS), insbesondere in der Zeit von 1887 bis 1918.

1.1 Die FS ging im Januar 1884 aus der Londoner Fellowship of the New Life hervor, die sich im Jahr zuvor auf Initiative von Edward Pease konstituiert hatte, um im Sinne des schottisch-amerikanischen Utopisten Thomas Davidson lebens- und sozialreformerisch tätig zu werden. Pease, später viele Jahre lang Sekretär der Gesellschaft, war Mitglied der 1881 gegründeten Democratic Federation. Diese zunächst neochartistische Organisation wurde von ihrem eigensinnigen Vorsitzenden Henry M. Hyndman als erste britische Partei auf sozialistischen Kurs gebracht : 1884 erfolgte die Umbenennung in Social Democratic Federation (SDF). Obwohl das in diesem Jahr verabschiedete Reformgesetz dem größten Teil der männlichen Bevölkerung des Vereinigten Königreichs das Stimmrecht zusprach, blieb sie stets weit entfernt von den Wahlerfolgen ihrer Vorbilder auf dem europäischen Kontinent. Nur eine politische Randexistenz war auch der im gleichen Jahr von ihr abgespaltenen Socialist League beschieden; sie entglitt schon bald der Führung des von Engels unterstützten William Morris und nahm einen anarchistischen Weg in die Bedeutungslosigkeit.

1.2 Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Verzicht der Fabier auf herkömmliche Parteiarbeit. »Die ihrem Ursprunge und ihren Mitgliedern nach zur Bourgeoisie gehörende Gesellschaft«, so erläuterte Sidney Webb, ihr neben George Bernard Shaw bedeutendstes Mitglied, entschied sich dafür, zur Beförderung des Sozialismus eine Strategie anzuwenden, »die in England mit so großem Erfolge von früheren Verbindungen innerhalb der Bourgeoisie – wie den Anhängern Benthams, den Sklaverei-Gegnern, und der Liga zur Aufhebung der Kornzölle« (Webb [Hg.] 1898, XIII) – verfolgt worden war : das beharrliche Einwirken auf die intellektuellen und politischen Eliten, die »Durchdringung« ihrer ideologischen und organisatorischen Strukturen. Die Gelegenheit schien günstig, hatte sich doch der Liberale Sir William Harcourt zu dem Ausruf »Wir sind jetzt alle Sozialisten !« hinreißen lassen. Dennoch waren Geduld und Entschlossenheit nötig, Eigenschaften, die der Namenspatron, der römische Feldherr Fabius, genannt Cunctator, im Kampf gegen Hannibal an den Tag gelegt hatte. Der Fabianismus setzte nicht auf eine Entscheidungsschlacht, die Revolution, und da »die Vorstellung von einem ›klassenbewußten Proletariat‹« den Verhältnissen unangemessen, geradezu »unenglisch« sei (ebd., X), auch nicht auf eine Mobilisierung der Arbeiterschaft.

1.3 Wie die beiden ersten, im Gründungsjahr publizierten Flugschriften zeigen, trug die Gesellschaftskritik der Fabier zunächst keine eindeutig sozialistischen Züge. Fabian Tract No. 1 fragte anklagend Why Are the Many Poor ?; No. 2 gab Shaw den Charakter eines Manifests, das mit seinen Forderungen nach Landreform, Abschaffung indirekter Steuern und Frauenwahlrecht einen radikalliberalen Charakter hatte (1887, in No. 6, konfrontierte Shaw den progressiven Flügel der Liberalen Partei mit The True Radical Programme). No. 4, What Socialism Is (1886), gab der Erwartung Ausdruck, gerade daraus, daß der britische Sozialismus noch zwischen einem etatistischen Kollektivismus und einem individualistischen Anarchismus schwanke, werde er seine eigentümliche Kraft beziehen können. Zur Erläuterung der ersten Position berief man sich, nachdem Engels als Autor abgesagt hatte (vgl. Pugh 1984, 9), auf Bebel, den Anarchismus vertrat die Fabierin Charlotte Wilson. Erst das folgende Jahr brachte mit Webbs statistischer Argumentationshilfe Facts for Socialists (No. 5) und der Annahme einer Grundsatzerklärung (»Basis«) das Ende dieser Orientierungsphase. An die Stelle eines Aufrufs zur gesellschaftlichen Erneuerung im Interesse der »allgemeinen Wohlfahrt und Glückseligkeit« (vgl. Pease 1925, 32) trat die schlichte Feststellung : »Die Gesellschaft der Fabier besteht aus Sozialisten.« (Reichel 1947, 238)

2. Die intern gewonnenen Überzeugungen sollten die aus Vortragstexten der Vorstandsmitglieder hervorgegangenen Fabian Essays in Socialism einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln helfen. Die 1889 zunächst im Selbstverlag gedruckte Sammlung fand auf Anhieb ein unvorhergesehen großes Publikum ; nach einem Jahr näherte sich die Gesamtauflage 20 000 Stück (vgl. FE, 12). Edward Bellamy, Autor des sehr erfolgreichen utopischen Romans Looking Backwards (1887), schrieb das Vorwort zu einer amerikanischen Ausgabe (1894); Übersetzungen, darunter eine um den letzten der acht Essays gekürzte deutsche (vgl. ES), folgten. Der von Shaw redigierte Band sollte in seinen drei Teilen die »Grundlagen des Sozialismus« in ökonomischer, historischer, industrieller und ethischer Hinsicht klären, Eigentum und Industrie unter den Bedingungen der sozialistischen »Organisation der Gesellschaft« beschreiben und schließlich Möglichkeiten eines »Übergangs zur sozialen Demokratie« aufzeigen. In seinem Eingangsaufsatz ergänzte Shaw Ricardos Rententheorie durch Stanley Jevons’ Grenznutzenlehre, derzufolge »der am wenigsten nützliche Teil des Angebots« den »Tauschwert der gesamten Ware« bestimmt (ES, 17 f.). Wie bereits Max Beer festgehalten hat, war die »Verwerfung der Arbeitswerttheorie« und die damit verbundene Spitze gegen den nur in einer Fußnote erwähnten Marx (vgl. ebd., 36) dabei »minder wichtig als die Erhebung der Rententheorie zum Mittelpunkt« der politischen Ökonomie des Fabianismus (Beer 1913, 462), da sich aus ihr der Angriff auf den »unverdienten Wertzuwachs« und die »nichtstuende Klasse« ergab (vgl. ES, 264). Shaw erwies sich auch hier wieder als getreuer Schüler radikalliberaler Denker wie Henry George und John Stuart Mill. Ähnlich Webb, der den späten Mill für einen Sozialismus reklamierte, den es als »ökonomische Kehrseite« der Demokratie aufzufassen gelte (vgl. ebd., 86, 90). Er kritisierte den statischen Charakter der klassischen Utopien von Platon bis Saint-Simon (ebd., 45) und stellte ihnen ein evolutionäres Modell gegenüber. Die »moderne socialistische Philosophie« bringe »die bewußte und bestimmte Anerkennung von gesellschaftlichen Grundsätzen, die zum großen Teil schon unbewußt befolgt« würden (44) – insbesondere in der Politik der Stadtverwaltungen, den Katalog der öffentlichen Dienstleistungen immer mehr zu erweitern (vgl. 73). Während Webb mit erstaunlichem Optimismus die »ökonomische Geschichte« des 19. Jahrhunderts »eine fast ununterbrochene Aufzählung der Fortschritte des Socialismus« nannte (44), beschrieben William Clarke und Annie Besant die Konzentrationstendenzen in der gewerblichen Wirtschaft. Jene Industriezweige, in denen die Trustbildung am weitesten fortgeschritten sei, ließen sich als »zur Übernahme durch die Gemeinschaft reif« ansehen (233). Inwieweit die britische Gesellschaft insgesamt reif für die sozialistische Umgestaltung sei, blieb strittig. Shaw behauptete, man befinde sich bereits »mitten in der Übergangsperiode« (255), und spottete über revolutionäre Enthusiasten, die sich von einem gewaltsamen Umsturz die unverzügliche Änderung aller Lebensverhältnisse erhofften. Hubert Bland sah weitaus größere Widerstände ; eine »wirklich geschlossene sozialistische Partei« (FE, 253) sei unverzichtbar, werde aber gegen eine Allianz der bürgerlichen Kräfte bestehen müssen. Nicht nur in diesem Punkt zeigten sich die Fabier uneins. So harmonierte Shaws Entgegensetzung von Individualismus und Sozialismus (vgl. ES, 39) schlecht mit Sidney Oliviers These, letzterer sei »ein Sproß des Individualismus . . . und eine notwendige Vorstufe zur Erreichung des individualistischen Ideals« (ebd., 157). Ohnehin aber verdankte sich der spektakuläre Erfolg der Fabian Essays weder einer überragenden Brillanz noch einer vollständigen Kohärenz der einzelnen Beiträge, sondern wohl in erster Linie ihrem betont besonnenen Ansatz, der »die gewöhnliche Annahme, daß der Socialismus notwendigerweise mit Utopieen einerseits, mit Putschismus andrerseits verbunden« sei, erschütterte (Webb [Hg.] 1898, 31).

3. Die folgenden Jahre waren von Webbs Bemühungen geprägt, die theoretischen Fundamente des Fabianismus durch soziohistorische Forschungen zu untermauern und die politische »Durchdringung« vor allem der Liberalen zu forcieren. In Gemeinschaftsarbeit mit seiner Frau Beatrice, die zuvor bereits eine Untersuchung der Genossenschaftsbewegung vorgelegt hatte (Webb 1893), entstanden bahnbrechende Studien zu Vergangenheit und Gegenwart des englischen Gewerkschaftswesens (The History of Trade-Unionism, 1894, 2. Aufl. 1920, dt. 1895; Industrial Democracy, 1897, dt. 1898) sowie eine monumentale Geschichte der englischen Kommunalverwaltung (English Local Government, 10 Bde., 1906–29). Als Mitglied des Londoner Grafschaftsrates von 1892 bis 1910 versuchte Webb, die radikalliberale Fraktion auf ein »munizipalsozialistisches« Programm zu verpflichten. Sein besonderes Interesse galt dabei der Bildungspolitik ; daß ein wohlhabendes Mitglied den Großteil seines Vermögens der FS hinterließ, ermöglichte ihm 1895 die Gründung der London School of Economics and Political Science (LSE), die sich in kurzer Zeit zu einer der weltweit bedeutendsten Einrichtungen ihrer Art entwickelte (vgl. Dahrendorf 1995). Als ähnlich dauerhaft hat sich der Erfolg des New Statesman erwiesen. 1913 von Shaw mit Hilfe der von seinen Stücken eingespielten Tantiemen lanciert, hat das Wochenblatt seine nach dem 1. Weltkrieg erworbene Stellung als Forum der britischen Linken seither stets behaupten können und dabei so unterschiedliche Konkurrenzorgane wie J. Maynard Keynes’ Nation & Athenaeum, New Society und zuletzt Marxism Today inkorporiert. – Erratisch und glücklos war hingegen der Kurs des Fabianismus in Westminster. Gladstones letzte, am Irlandproblem gescheiterte Regierung versäumte es, das progressive »Newcastle Programme« (1892) in die Tat umzusetzen. Shaws Plan of Campaign for Labour (Tract No. 49, 1894) verband schärfste Kritik daran mit Empfehlungen an die Adresse der Anfang 1893 in seinem Beisein gegründeten Independent Labour Party (ILP). Deren schlechtes Abschneiden bei den Wahlen 1895 bestärkte Webb in der Überzeugung, zur Politik der Beeinflussung der Liberalen gebe es auch weiterhin keine Alternative. Die Auseinandersetzung um den Burenkrieg entfremdete den vormaligen Beamten im Kolonialministerium von den Radikalen und ließ ihn ein Bündnis mit dem imperialistischen Flügel der Liberalen unter Lord Rosebery eingehen (vgl. Webb 1901). Die Verbindung von Sozialreform und Imperialismus, zuvor verkörpert in Joseph Chamberlain, erneuerte sich in Shaws Manifest Fabianism and the Empire (1900) und in Webbs Forderung nach »nationaler Effizienz« (vgl. Searle 1971; Wittig 1982, 208-70); die angestrebte Revolutionierung der britischen Politik gelang jedoch nicht. Als Lloyd George schließlich eine liberale Reformpolitik voranbrachte, orientierte er sich nicht an den Konzepten des Fabianismus, sondern an Bismarcks Sozialgesetzgebung. Von vornherein aussichtslos war daher auch Beatrice Webbs Minderheitsvotum zur Novellierung des Armengesetzes (1909), dem die Webbs durch eine vehemente Kampagne zur Durchsetzung verhelfen wollten (vgl. Webb 1912).

4.1 Engels hielt die »jebildeten Sozialisten« der FS (an W. Liebknecht, 17.4.1889; MEW 37, 186), zeitlebens für nichts als nützliche Idioten der Liberalen (vgl. MEW 38, 423). Im Gespräch mit dem Daily Chronicle prophezeite er 1893, Sidney Webb werde »bei seinen Versuchen, die Liberale Partei zu durchdringen, graue Haare bekommen«, und stellte klar : »Wir glauben nicht an die Durchdringung der bürgerlichen Parteien. Wir durchdringen das Volk.« (MEW 22, 548) Bernstein hingegen erfreute sich freundschaftlicher Kontakte zu den Fabiern. Seine Frau Regine übersetzte die Geschichte des Britischen Trade-Unionismus, die ihm als eindrucksvolle »object lesson für die materialistische Geschichtstheorie« erschien (an Engels, 30. 6. 1895; Hirsch [Hg.] 1970, 418), er selbst besorgte Anmerkungen und Nachwort (vgl. Webb 1895). Daß der Fabianismus auf den Revisionismus abfärbte, kann als sicher gelten (vgl. Meyer 1977). Schon Lenin, der selbst mit seiner Frau ein anderes der »Werke des gründlich gelehrten (und ›gründlich‹ opportunistischen) Ehepaars Webb« (LW 5, 417) aus dem Deutschen ins Russische übertrug (den 1. Bd. der Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine [1900]), argwöhnte, Bernstein habe »seinen Opportunismus in England bei den ›Fabians‹ ›großgezogen‹« (LW 12, 368). Seine Auflehnung gegen die Orthodoxie betrachteten die Fabier als Wiederaufnahme ihrer eigenen Konfrontation mit dem vulgärmarxistischen »Impossibilismus« (Shaw 1979, 68) der SDF auf größerer Bühne : Shaw äußerte nach der ersten offiziellen Verurteilung Bernsteins durch den Parteitag der SPD in dessen Sozialistischen Monatsheften, den Kampf des Revisionismus habe der Fabianismus »in England . . . bereits durchgefochten und glücklich beendet«; er selbst sei »natürlich durch und durch Bernsteinianer« (SM, 615). Ironischerweise berief sich gerade Kautsky einige Jahre später auf die »Ermattungsstrategie« des Fabius, worauf ihn Rosa Luxemburg belehrte, die schon von Mommsen zerstörte »Legende« vom erfolgreich zögerlichen Heeresführer diene an deutschen Gymnasien dazu, die Schüler »im konservativen Geiste zu drillen und vor ›Überstürzung‹ und ›Umstürzlern‹ zu warnen« (»Ermattung oder Kampf ?« [1910], GW Bd. 2, 344–77, hier 356). Aus dieser Kontroverse geht zwar nicht hervor, ob ein Bezug zum Fabianismus intendiert war ; dessen bisher kaum erforschte Ausstrahlung nach Deutschland auch über den Revisionismus hinaus sollte aber nicht unterschätzt werden. So zeigte sich, um nur ein Beispiel zu nennen, der junge Karl Korsch beeindruckt vom »fabelhaften Wirklichkeitssinn« der Fabier, den er durch die Teilnahme an einer ihrer Sommerschulen kennengelernt hatte (»Die Fabian Society« [1912], GA Bd. 1, 307–11, hier 310). Bezeichnenderweise standen die Webbs selbst vornehmlich mit dem Kathedersozialisten Lujo Brentano in Verbindung.

4.2 Während sich in verschiedenen britischen Überseebesitzungen Ortsvereine der FS konstituierten, gründeten Sympathisanten in den USA 1905 eine eigenständige Organisation, die Intercollegiate Socialist Society (ISS); Jack London war ihr erster Vorsitzender, der junge Upton Sinclair einer seiner beiden Stellvertreter. Da die Sozialisten unter Eugene Debs eine marginale Partei blieben, konzentrierte man sich auf die »Durchdringung« des linken Flügels der Demokraten sowie der Gewerkschaften. Nach dem Vorbild der Londoner LSE entstand die von Alvin Johnson, Herausgeber der New Republic, 1919 in New York gegründete New School for Social Research. Einige Mitglieder der 1921 – unter Anspielung auf das Werk der Webbs – in League for Industrial Democracy (LID) umbenannten Gesellschaft, unter ihnen Walter Lippman, Felix Frankfurter und Stuart Chase, der Erfinder des Slogans vom »New Deal« (1932), hatten später Anteil an der Ausarbeitung von Roosevelts Reformpolitik. (Eine ausführliche, aber polemisch überzeichnete Darstellung dieser transatlantischen Zusammenhänge bietet Martin 1966.)

5. Seit 1915 trug Sidney Webb als Mitglied des Labour-Vorstands dazu bei, die Partei endgültig von den Liberalen zu emanzipieren. Das Manifest Labour and the New Social Order (vgl. Cole [Hg.] 1949, 175–80) und ein neues Statut, dessen berühmter (1995 abgeänderter) § 4 die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum vorsah, machten Labour unter der Führung Arthur Hendersons 1918 zur genuin sozialdemokratischen Partei. Als Parteitagsvorsitzender formulierte Webb 1923 die Quintessenz des Fabianismus als Einsicht in die »Unvermeidlichkeit der gradualness« (vgl. ebd., 182). Im Jahr darauf bildete Ramsay MacDonald die erste Labour-Minderheitsregierung, in der mehrere Fabier Ämter übernahmen, darunter die beiden »Essayisten« Webb und Olivier. Für Trotzki war das Grund genug, in einer ausführlichen Polemik Klage zu führen, daß die Fabier, »diese selbstzufriedenen Pedanten, diese schwatzenden Eklektiker, sentimentalen Karrieremacher, diese Lakaien der Bourgeoisie« (Trotzki 1926, 64 f.), dem britischen Proletariat den Anschluß an die Weltrevolution verwehrten. Seine Darstellung, daß in MacDonald der Fabianismus an die Macht gelangt sei, erfolgte wohl in Unkenntnis der Tatsache, daß dieser schon 1900 aus der FS ausgetreten war, weil er deren imperialistische Tendenz mißbilligte. Dennoch traf sie insofern zu, als die FS seit der Neukonstituierung der Arbeiterpartei dieser angegliedert war und den Einfluß anderer Richtungen, insbesondere der gildensozialistischen, auf die Parteiprogrammatik zurückgedrängt hatte. Der Fabianismus verlor damit seine Eigenständigkeit und ging im »Labourismus« auf ; ohnehin war seine Politik so sehr mit der Autorität der ersten Generation der FS verbunden, daß keiner der nachfolgenden Theoretiker aus ihren Reihen – ob Hugh Dalton, Douglas Cole, Harold Laski oder R. H. Tawney – eine bleibende Neubestimmung des Fabianismus vornehmen konnte. Die Aufgabe der FS, der mit Clement Attlee, Harold Wilson und James Callaghan auch alle späteren Labour-Premiers angehörten, ist seither die einer Denkfabrik im Dienste der Partei geblieben.

6. Fabianismus stand für pragmatischen Sozialismus. Für dessen Umsetzung fehlte den beiden Minderheitskabinetten MacDonald jedoch der nötige politische Spielraum. Als die zweite Labour-Regierung, in der Webb als Peer (Lord Passfield) das Kolonialressort verwaltete, 1931 unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise zusammenbrach, verstärkte das die Zweifel der alten Fabier an der Möglichkeit des Sozialismus unter den Bedingungen des Parlamentarismus. Von Reisen in die Sowjetunion kehrten Shaw, der auch für Mussolini anerkennende Worte fand, und die Webbs, die sogleich eine voluminöse Studie des Soviet Communism (1935) erarbeiteten, als überzeugte Stalinisten zurück. Damit vertraten sie zwar nicht mehr die offizielle Position der FS (soweit von einer solchen gesprochen werden kann); ihre späte Konversion hat dennoch Anlaß dazu gegeben, die autoritären Züge des Fabianismus – seine Affinitäten zu Sozialdarwinismus, Eugenik und paternalistischem Imperialismus, das Vertrauen in die Effizienz einer zentral geführten Administration – einer kritischen Analyse zu unterziehen. Leonard Woolf, der sich in der FS (überwiegend vergeblich) um die Formulierung außenpolitischer Zielsetzungen bemüht hatte, gab die Richtung vor, als er schon 1949 die späte Begeisterung der Webbs für das bolschewistische Modell auf deren bedingungslose Ergebnisorientierung zurückführte : “They would have claimed to be intellectually upon the side of democracy, liberty, and equality, but they had no enthusiasm for that kind of thing and seemed to treat all such ideas as words which might at the appropriate time be used to induce people to organise society in the way in which the Webbs considered that it should be organised.” (Cole [Hg.] 1949, 257). Hinzu trat der Vorwurf, die Fabier hätten in ihrem Affekt gegen jede Form der Philanthropie und Sozialromantik dem Sozialismus die emanzipatorische Kraft entzogen, wie ihn Anthony Crosland erhoben hat (vgl. Crosland 1956, 521–24). Vielleicht hatte ihn Webb bereits 1920 vorweggenommen, als er im Vorwort zur Neuauflage der Essays in gewundenen Worten eingestand, den »Bedingungen eines allgemein verbreiteten Bewußtseins gesellschaftlicher Freiheit« (FE, 279) sei zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Natürlich blieb es nicht bei einer Selbstkritik. Aus neomarxistischer Perspektive forderte Eric Hobsbawm eine völlige Neubewertung des Fabianismus, dessen politische Leistung weitaus geringer zu veranschlagen sei als seine »mythologische« Selbstdarstellung glauben mache (vgl. Hobsbawm 1964, 251). Von den anhaltenden Irritationen, die das Erbe des Fabianismus auslöst, zeugen auch die zum 100. Jubiläum der Gründung der FS vorgelegten Fabian Essays in Socialist Thought (s. Pimlott [Hg.] 1984]). Der Einfluß der FS auf die britische Politik im allgemeinen und den britischen Sozialismus im besonderen, so unbestreitbar er ist, wird umstritten bleiben.
 

B i b l i o g r a p h i e

M. Beer, Geschichte des Sozialismus in England, Stuttgart 1913; Fabian Essays, London [6]1962 (zit. FE); M. Cole (Hg.), The Webbs and their Work, London 1949; dies., The Story of Fabian Socialism, London 1961; C. A. R. Crosland, The Future of Socialism, London 1956; R. H. S. Crossman (Hg.), Neue Beiträge sozialistischer Autoren, Frankfurt a. M. 1953; R. Dahrendorf, LSE. A History of the London School of Economics and Political Science, 1895–1995, Oxford 1995; »Die Ergebnisse des Hannoverschen Parteitags. Eine Umfrage«, in : Sozialistische Monatshefte, Jg. 5, 1899, 597–623 (zit. SM); M. Grunwald (Hg.): Englische Socialreformer. Eine Sammlung »Fabian Essays«, Leipzig 1897 (zit. ES); H. Hirsch (Hg.), Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Friedrich Engels, Assen 1970; E. J. Hobsbawm, Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964; N. Mackenzie (Hg.), The Letters of Sidney and Beatrice Webb, 3 Bde., Cambridge 1978; R. Martin, Fabian Freeway. High Road to Socialism in the U.S.A., 1884–1966, Boston 1966; Th. Meyer, Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Bonn-Bad Godesberg 1977; E. R. Pease, »Die Fabian Society«, in : Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 1 (1911), 333–53; ders., The History of the Fabian Society, London [2]1925; B. Pimlott (Hg.), Fabian Essays in Socialist Thought, London 1984; P. Pugh, Educate, Agitate, Organize. 100 Years of Fabian Socialism, London 1984; E. Reichel, Der Sozialismus der Fabier. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des modernen Sozialismus in England, Heidelberg 1947; G. R. Searle, The Quest for National Efficiency. A Study in British Politics and Political Thought, 1899–1914, Oxford 1971; B. Shaw, Fabianism and the Empire. A Manifesto, London 1900; ders., Sozialismus für Millionäre. Drei Essays, üb. v. G. Landauer u. S. Trebitsch, Frankfurt a. M. 1979; ders., Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus, Berlin 1928; L. D. Trotzki, Wohin treibt England ?, Berlin [2]1926; B. Webb, Die britische Genossenschaftsbewegung, Hg. L. Brentano, Leipzig 1893; Meine Lehrjahre (1926), Frankfurt a. M. 1988; S. u. B. Webb, Die Geschichte des Britischen Trade-Unionismus, Stuttgart 1895; dies., Theorie und Praxis der Englischen Gewerkvereine, Stuttgart 1898; dies., Das Problem der Armut, Jena 1912; dies., Soviet Communism : a New Civilization ?, 2 Bde., London 1935; S. Webb (Hg.), Der Socialismus in England, geschildert von englischen Socialisten, Göttingen 1898; ders., »Lord Rosebery’s Escape from Houndsditch«, in : Nineteenth Century, Jg. 1901, 366–86 (= Fabian Tract 108); P. Wittig, Der englische Weg zum Sozialismus. Die Fabier und ihre Bedeutung für die Labour Party und die englische Politik, Berlin 1982

 
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